Neutronenstrahlung aus künstlichen Entladungen
Erstmals nachgewiesen: Bei Blitzen im Labor entstehen teils extrem energiereiche Neutronen.
Wenn Gewitterstürme in der Atmosphäre toben, gibt es nicht nur Blitz und Donner, sondern es werden auch Neutronen freigesetzt. Sowohl in Bodennähe als auch in hohen Atmosphärenschichten und sogar am Übergang zum Weltraum konnten Forscher schon Neutronen messen, die offenbar bei atmosphärischen Entladungen entstehen. Welche kernphysikalischen Reaktionen hinter diesem Phänomen stecken, ist bislang aber noch unbekannt. Es gibt eine Reihe von Vermutungen: So könnte die Fusion von Deuterium mit einem weiteren Deuteriumkern zu Helium-3 ein Neutron freisetzen. Auch die Fusionsreaktionen von Deuterium mit Kohlenstoff-12 zu Stickstoff-13 oder mit Stickstoff-14 zu Sauerstoff-15 wären mögliche Neutronenquellen. Es ist aber ebenso möglich, dass photonukleare Reaktionen für die Neutronen in einer Gewitterwolke verantwortlich sind. Blitze in Gewitterwolken erreichen Dutzende Kiloampere. Aber auch andere, exotischere atmosphärische und ionosphärische Entladungen, wie Kobolde oder terrestrische Gammablitze, gehen mit einer Emission von Neutronen einher.
Abb.: Die Entladungen im Experiment nahmen unterschiedliche Formen an: Wie bei atmosphärischen Blitzen waren auch hier gerade, verzweigte und leiterartige Kanäle zu sehen. (Bild: A. V. Agafonov et al.)
Physiker vom Lebedev-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften konnten nun erstmals einen Neutronenfluss bei künstlichen Entladungen nachweisen. Teilweise erreichten die Neutronen sogar erstaunlich hohe Energien. Die Forscher maßen ein sehr breites Energiespektrum, von thermischen Neutronen bis hin zu solchen mit über zehn Megaelektronenvolt. Mit diesen Ergebnissen wird es nun möglich, die atmosphärischen Prozesse im Labor zu untersuchen.
Wie Messungen mit Ballons, Flugzeugen und Raketen bisher gezeigt haben, liegen die elektrischen Felder in Gewitterwolken üblicherweise bei höchstens drei bis neun Kilovolt pro Zentimeter. Damit überschreiten sie nicht die Durchschlagfeldstärke von trockener Luft, die in der dünnen Luft der oberen Atmosphäre etwa 10 und in Bodennähe 25 kV/cm beträgt. In Gewitterwolken ist die Luft jedoch feucht. An Wassertropfen könnte sich die Feldstärke erhöhen. Eine andere mögliche Erklärung für die Einleitung einer Entladung könnte die lawinenartige Ausbreitung schneller Elektronen sein.
Die russischen Forscher versuchten, die unterschiedlichen atmosphärischen Bedingungen in ihrem Experiment nachzustellen. Ein Marx-Generator lieferte einen Entladungsstrom von 10 bis 15 kA in Luft, den die Forscher über austauschbare Elektroden in die Entladungskammer einspeisten. Die Strecke zwischen Anode und Kathode lag je nach gewünschter Feldstärke zwischen 45 und 60 cm, die Feldstärke zwischen 17 und 22 kV/cm. Den Neutronenfluss bestimmten die Forscher mit Hilfe von Plastikszintillationszählern. Weitere Detektoren maßen die Röntgen- und andere Strahlung.
Bei gut einem Viertel der insgesamt 180 Entladungen ist es den Forschern gelungen, Neutronen nachzuweisen. Mit steigender Feldstärke erhöhte sich dieser Wert noch leicht. „Ein besonders wichtiges Resultat unserer Messungen ist die direkte Beobachtung der Zertrümmerung eines Kohlenstoff-12-Kerns in drei Alpha-Teilchen“, berichten Aleksey Agafonov und seine Kollegen. Bei zehn nachgewiesenen solchen Ereignissen beträgt die Signifikanz der Beobachtung zehn Sigma.
Außerdem bestimmten die Wissenschaftler die Abnahme des Neutronenflusses vom Zentrum der Entladung, die weniger als dem inversen Quadrat der Entfernung entsprach. Dies spricht gegen ein punktförmiges und für ein ausgedehntes Erzeugungsgebiet der Neutronen. Die Neutronen wurden auch stets zu Beginn der Entladung freigesetzt, wie die zeitliche Analyse ergab.
Der Neutronenfluss ging außerdem immer mit Röntgenstrahlung einher. Die Forscher wiesen keine Neutronen nach, die nicht von Röntgenstrahlung begleitet war. Unter der Annahme, dass Röntgen- und Neutronenstrahlung gleichzeitig emittiert werden, konnten die Forscher auch die durchschnittliche Energie der Neutronen mit 15 ± 7 MeV angeben, die auch für kernphysikalische Prozesse beachtlich ist. „Es gibt bislang keine befriedigende Erklärung für die Summe an experimentellen Befunden“, beschreiben Agafonov und seine Kollegen die Situation. „Ein besonderes Rätsel ist die Herkunft der sehr hochenergetischen Neutronen.“
Für die Zukunft planen die Wissenschaftler deshalb weitere Verbesserungen an ihrem Experiment. Hierzu gehört nicht nur eine höhere zeitliche Auflösung des Entladungsprozesses, sondern auch die partielle Abschirmung der Entladungszone, zusätzliche Neutronendetektoren und verschiedene Moderatormaterialien, mit denen sich die Neutronenenergien selektiv untersuchen lassen. Damit hoffen die Forscher, endlich den rätselhaften Erzeugungsprozess von Neutronen in der Atmosphäre und Ionosphäre zu verstehen.
Dirk Eidemüller
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