Nobelpreis: Löcher, Phasen, Übergänge
Der diesjährige Physik-Nobelpreis geht an David J. Thouless, F. Duncan M. Haldane und J. Michael Kosterlitz für die Entdeckung topologischer Phasen und Phasenübergänge.
Um sich dem anspruchsvollen Thema des diesjährigen Nobelpreises anschaulich zu nähern, griff Thors Hans Hansson, Mitglied des Nobel-Komitees für Physik, kurzerhand zu Gebäck: ein Brötchen, ein Bagel und eine Brezel. Die Form dieser Backwaren ist durch die Zahl der Löcher (null, eins bzw. zwei) charakterisiert: Brötchen, Bagel und Brezel sind topologisch verschieden. Dagegen sind ein Bagel und eine Kaffeetasse topologisch äquivalent, weil sie sich unter stetigen Verformungen ineinander umformen lassen – zumindest prinzipiell, denn wer möchte schon aus Bagel-Teig Kaffee trinken?
Die mathematische Topologie geht natürlich weit über solche anschaulichen Beispiele hinaus und befasst sich höchst abstrakt mit den Eigenschaften allgemeiner Räume. Die preiswürdigen Arbeiten der drei britischen Physiker, die alle an amerikanischen Universitäten forschen, gelangen mit der Anwendung der Topologie auf physikalische Systeme. Der diesjährige Nobelpreis geht zur Hälfte an David J. Thouless und zu je einem Viertel an F. Duncan M. Haldane und J. Michael Kosterlitz „für die theoretische Entdeckung von topologischen Phasenübergängen und topologischen Phasen von Materie“.
Die diesjährigen Physik-Nobelpreisträger (von links): David J. Thouless (geb. 1934), F. Duncan M. Haldane (geb. 1951) und J. Michael Kosterlitz (geb. 1942)
(Fotos: University of Washington / Princeton University / Brown University)
Phasenübergänge lassen sich üblicherweise mit Symmetriebrechungen charakterisieren. Wenn beispielsweise Wasser gefriert, bricht die Kristallstruktur des Eises die kontinuierliche Rotations- und Translationssymmetrie im flüssigen Wasser. In den frühen 1970er-Jahren konnten Michael Kosterlitz und David Thouless jedoch zeigen, dass verschiedene Muster langreichweitiger Wechselwirkungen unterschiedliche Topologien besitzen können. Der Übergang zwischen diesen Mustern definiert eine neue Klasse von „topologischen“ Phasenübergängen.
Damit konnten die beiden Theoretiker zeigen, wie in dünnen Schichten ultrakalten Heliums Suprafluidität entsteht und bei höheren Temperaturen wieder verschwindet: In der supraleitenden Phase bilden sich enge Paare von Wirbeln, die bei einer kritischen Temperatur durch einen topologischen Phasenübergang auseinanderbrechen.
In den 1980er-Jahren erklärte Thouless, warum die Leitfähigkeit in sehr dünnen leitenden Schichten in ganzzahligen Schritten gemessen wird. Er konnte zeigen, dass auch diese ganzzahligen Werte topologischer Natur sind, so wie sich die Anzahl der Löcher bei Brötchen, Bagel und Brezel nur ganzzahlig ändern kann. Etwa zur selben Zeit entdeckte Duncan Haldane, dass topologische Phasen relevant sind, um die Eigenschaften von so genannten Spinketten zu verstehen.
Der diesjährige Nobelpreis an Thouless, Haldane und Kosterlitz würdigt insbesondere die große Tragweite des topologischen Ansatzes in der Physik. So gelang es, zahlreiche weitere topologische Phasen zu entdecken, etwa topologische Isolatoren, die sich in ihrem Inneren wie ein Isolator verhalten, aber eine metallische Oberfläche besitzen, auf der Ströme fließen, ohne Energie zu verbrauchen. Die Oberflächenströme erweisen sich dabei als äußerst stabil.
Zu den Systemen, die topologisch besonders interessant sind, gehören beispielsweise geometrisch „frustrierte“ Spinsysteme. Hier koppeln Spins über verschiedene Austauschwechselwirkungen, die sich jedoch nicht alle gleichzeitig minimieren lassen. Ein anderes Beispiel sind wirbelartige Strukturen in der Magnetisierung von Festkörpern („Skyrmionen“).
In vieler Hinsicht ist die Erforschung topologischer Phasen noch physikalische Grundlagenforschung. Aber für einige der genannten Beispiele zeichnen sich bereits Anwendungsmöglichkeiten in Spintronik, Supraleitung oder Quanteninformationsverarbeitung ab. Nach dem großen Nutzen für die Physik kann sich also noch der „größte Nutzen für die Menschheit“ einstellen, für die Alfred Nobel seine Preise gedacht hatte.
Alexander Pawlak