06.04.2021

Nukleonen auf Tuchfühlung

Experimente mit inverser Kinematik liefern neue Einsichten in Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung.

Mit inverser Kinematik, der Umkehrung einer etablierten Forschungs­methode, und der Wahl der richtigen Messbedingungen stellte ein internationales Team einen Weg für die detaillierte Untersuchung der Eigenschaften der Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung im Atomkern vor. Das Experiment wurde nun von einer großen internationalen Kollaboration (BM@N Collaboration) unter der Leitung des Massachusetts Instituts for Technology (MIT), der Tel Aviv University, der TU Darmstadt, sowie des Joint Institute for Nuclear Research (JINR) an der Beschleuniger-Anlage des JINR in Dubna bei Moskau durch­geführt. 
 

Abb.: Beschleuniger-Anlage des Joint Institute for Nuclear Research in Dubna....
Abb.: Beschleuniger-Anlage des Joint Institute for Nuclear Research in Dubna. (Bild: TU Darmstadt)

Stark wechselwirkende quantenmechanische Vielteilchen-Systeme sind in der Natur besonders schwer experimentell zu erforschen. Ein solches System ist der Atomkern, der von der starken Wechselwirkung zwischen seinen Bestandteilen, den Nukleonen, zusammen­gehalten wird. Die Eigenschaften dieser Wechselwirkung im dichten Kernverband zu erforschen, ist eine große Heraus­forderung. Hierfür kommen beispielsweise hochenergetische Protonen-Strahlen mit kleiner Wellenlänge zum Einsatz, die als Sonde auf die zu untersuchenden Atomkerne geschossen werden. Doch bei diesem Verfahren wird die ungestörte Sicht in die mikroskopische Struktur mithilfe der Sonde aufgrund von komplexen Mehrfach-Wechselwirkungen erschwert. 

Hier setzten die Wissenschaftler der Kollaboration an. Für ihre Experimente drehten sie das Prinzip der Versuchs­anordnung gleichsam um – sie arbeiteten mit inverser Kinematik. Statt einen Protonen-Strahl auf einen Atomkern zu schießen, ließen sie die zu untersuchenden Kohlenstoff-Kerne auf ruhende Protonen treffen. So gelang es zu zeigen, dass in solchen Experimenten, jedoch in inverser Kinematik, eine Selektion des Endzustands ermöglicht wird, die Streuprozesse mit komplexeren Wechselwirkungen ausschließt und damit genaue Untersuchungen der Kräfte im Atomkern ohne das störende Rauschen anderer physikalischer Effekte ermöglicht.

Schlüssel des nun beschriebenen Experiments war die Invertierung der Kinematik, bei der der zu untersuchende Kern als hochenergetischer Strahl (rund drei GeV pro Nukleon beim C-12-Strahl) auf ruhende Protonen (in Form eines Flüssig-Wasserstoff-Targets) geschossen wird. Dies erlaubt neben der Messung der gestreuten Nukleonen eine genaue Vermessung des Endzustands des Atomkerns nach dem Streuprozess, was in Experimenten in normaler Kinematik nicht möglich ist. Die Analyse des Experimentes zeigte, dass durch geeignete Selektion des Endzustands direkte Streu­prozesse identifiziert werden können. So konnten die Forscher Informationen über die Eigenschaften der Nukleonen im Grund­zustand des Atomkerns gewinnen. 

Diese Selektivität erlaubte den Wissenschaftlern bereits in diesem ersten Experiment, neue Erkenntnisse über den kurzreichweitigen Anteil der Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung zu gewinnen. Die Eigenschaften der Nukleon-Nukleon- und Mehr-Nukleon-Wechsel­wirkungen bei kleinen Abständen ist dabei von besonderem Interesse: Sie ist insbesondere zum Verständnis der Eigenschaften von neutronen­reicher Kernmaterie hoher Dichte, wie sie im Universum in Form von Neutronen­sternen existiert, von Bedeutung. 

Meytal Duer, Mitarbeiterin am Institut für Kernphysik (AG Aumann) der TU Darmstadt und verantwortlich für große Teile der Analyse des nun publizierten Experiments, erklärt: „Dieser experimentelle Durchbruch öffnet den Weg, um die Eigenschaften der kurz­reichweitigen Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung in neutronen­reichen kurzlebigen Kernen im Detail zu erforschen.“ Solche Kerne könnten am neuen Darmstädter Beschleunigungszentrum FAIR als intensive Strahlen erzeugt werden, so Duer. Die Kollaboration plane für das nächste Jahr bereits ein erstes Experiment mit einem instabilen Kern an der R3B-Anlage (Reaction with Relativistic Radioactive Beams) am GSI Helmholtz­zentrum für Schwer­ionen­forschung in Darmstadt.

TU Darmstadt / DE
 

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