Nukleonenklumpen im Kern
Ob sich in leichten Atomkernen die Nukleonen zu Alphateilchen zusammenschließen, hängt von der Tiefe des Kernpotentials ab.
Die Quantenchromodynamik beschreibt die Kräfte im Atomkern exakt. Doch schon für leichte Kerne wird dies so kompliziert, dass man effektive Kräfte zwischen den Nukleonen (den Protonen und Neutronen) einführen muss, um die Kerneigenschaften wenigsten näherungsweise berechnen zu können. Meist verhält sich der Kern wie ein strukturloser Flüssigkeitstropfen, den kurzreichweitige Kräfte zusammenhalten. Doch einige leichte Kerne enthalten Cluster aus je zwei Protonen und Neutronen – mit weitreichenden Folgen für den Kernzerfall und für die Elementsynthese in den Sternen. Jetzt haben Forscher in Frankreich und Kroatien untersucht, wie es zu diesen Clustern kommt.
Cluster im Kern. Die relativistischen Energiedichteberechnungen zeigen, dass die Kernmaterie deutliche lokale Verdichtungen aufweist, die davon herrühren, dass sich die Nukleonen zu Alphateilchen zusammenschließen. (Bild: J.-P. Ebran et al., Nature)
Dass sich im Atomkern einzelne Nukleonen zusammenschließen und molekülähnliche Zustände bilden können, hatten schon 1937 sowohl John Wheeler als auch Carl Friedrich von Weizsäcker angenommen. Edward Teller vermutete 1938, dass Kerne wie C-12 oder O-16 im Grundzustand aus Alphateilchen aufgebaut sind. Diese Überlegungen traten jedoch zunächst in den Hintergrund angesichts des großen Erfolges, mit dem man den Atomkern als Aggregat von Nukleonen beschrieb, die sich unabhängig in einem von ihnen gemeinsam verursachten effektiven Potential bewegen. Doch ab den 1960er Jahren brachten theoretische Untersuchungen und experimentelle Beobachtung die Nukleonencluster wieder auf die Tagesordnung.
An leichten Atomkernen, die ebenso viele Protonen wie Neutronen enthielten, hatte man „quasi-molekulare“ Resonanzen beobachtet, die auf Clusterbildung hindeuteten. Bei Kollisionen verhielten sich Kerne wie C-12 nicht wie strukturlose Tropfen, sondern sie zeigten eine körnige Struktur, die von den in ihnen vorhandenen alphateilchenartigen Clustern herrührte. Auch beim Alphazerfall solcher angeregter Kerne machten sich die Cluster bemerkbar. Tellers Vermutung schien sich zu bestätigen, allerdings mit der Einschränkung, dass vor allem in den angeregten Kernen Alphateilchen-Cluster auftraten.
Der Zusammenhang zwischen Alphateilchen und angeregten C-12-Kernen spielt beim Drei-Alpha-Prozess in den Sternen eine entscheidende Rolle. Dabei werden zunächst zwei Helium-4-Kerne zu Be-8 verschmolzen, das dann mit einem weiteren He-4 zu C-12 verschmilzt. Dass dieser zweite Schritt überhaupt stattfinden kann, dafür ist ein besonderer Anregungszustand des C-12-Kerns verantwortlich, der noch vor seiner Entdeckung von Fred Hoyle vorhergesagt worden war. Der Einfang des Alphateilchens durch den Be-8-Kern wird erheblich dadurch erleichtert, dass der dann entstehende angeregte C-12-Kern drei alphateilchenartige Cluster enthält. Ohne diesen „Hoyle-Zustand“ gäbe es nur sehr wenig Kohlenstoff im Universum – und vermutlich kein organisches Leben.
Unter welchen Voraussetzungen in einem Atomkern Cluster auftreten, haben Forscher um Elias Khan von der Universität Paris für den Ne-20-Kern untersucht, der die Form eines länglichen, axialsymmetrischen Ellipsoids hat. Dazu haben sie Berechnungen durchgeführt, die sowohl die tropfen- wie auch die clusterartigen Eigenschaften des Atomkerns berücksichtigten. Sie verwendeten die Methode der Energiedichtefunktionale, die in ähnlicher Form auch bei Berechnungen der elektronischen Struktur von Festkörpern eingesetzt wird. Im Fall der Atomkerne wird das Verhalten der Nukleonen in einem selbstkonsistent ermittelten Kernpotential berechnet, das die Verteilung und die Bewegungen der Nukleonen berücksichtigt. Die Forscher verwendeten dazu zwei spezielle Verfahren, von denen das eine die relativistischen Effekte einbezog, während das andere sie außer Acht ließ.
Beide Verfahren ergaben für die Bindungsenergie und den Durchmesser der Ladungsverteilung im Grundzustand des Ne-20-Kerns übereinstimmende Ergebnisse. Deutliche Unterschiede zeigten sich aber bei der räumlichen Verteilung der Nukleonen. Während die nichtrelativistisch berechnete Verteilung strukturlos war, zeigte die relativistische Verteilung eine starke Lokalisierung der einzelnen Nukleonen und damit eine Clusterbildung. Wie stark die Nukleonen lokalisiert sind, hängt von der Tiefe des effektiven nuklearen Potentials ab, in dem sich die einzelnen Kernbausteine bewegen. Relativistische Effekte vertiefen den Potentialtopf und verstärken dadurch die Lokalisierung und so auch die Clusterbildung.
Wie sich die Nukleonen im Kern verteilen, hängt entscheidend vom dimensionslosen Parameter a = b/r ab, wobei b die Breite der Wellenfunktion eines Nukleons und r der mittlere Abstand zwischen den Nukleonen ist. Ist a deutlich kleiner als 1, so bleiben die Nukleonen auf Distanz und bilden einen Kristall. Ist a wesentlich größer als 1, dann überlappen alle Wellenfunktionen, sodass eine Quantenflüssigkeit vorliegt. Ist a ungefähr 1, so haben nur kleine Gruppen von Nukleonen überlappende Wellenfunktionen, sodass sie sich zu Clustern zusammenschließen können. Da a mit der Zahl der Nukleonen anwächst, ist eine Clusterbildung in schweren Kernen relativ unwahrscheinlich.
Es bleiben allerdings noch einige Fragen offen. So haben Khan und seine Mitarbeiter zwar gezeigt, wie Cluster im Grundzustand des Kerns entstehen. Doch ob sie sich auf diese Weise auch in einem angeregten Zustand des Kerns bilden, der nahe der Schwelle zum Alphazerfall liegt, muss noch untersucht werden. Gerade hier haben die Cluster einen besonders großen Einfluss auf die Kerneigenschaften.
Rainer Scharf