Physikalisches Konzept erklärt Schwarmverhalten
Zusammenhang zwischen Kollektivverhalten und Kritikalität nachgewiesen.
Neue experimentelle Ergebnisse von Forschern der Uni Konstanz stützen die bislang umstrittene These, dass ein Zusammenhang zwischen einem physikalischen Konzept – dem kritischen Punkt – und dem charakteristischen Gruppenverhalten von Tieren besteht. Physiker des Exzellenzclusters „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“ wiesen nach, dass lichtgesteuerte Partikel, Mikroschwimmer genannt, dazu gebracht werden können, sich in kollektiven Zuständen wie Schwärmen und Wirbeln zu organisieren. Die Analysen, wie die Partikel spontan von einem Zustand in den anderen hin- und herwechseln, liefern Hinweise für kritisches Verhalten von Kollektiven. Sie untermauern zugleich die Annahme, dass dem komplexen Verhalten von Kollektiven ein allgemeines physikalisches Prinzip zugrunde liegen könnte.
Tiergruppen besitzen die scheinbar widersprüchliche Eigenschaft, in ihrer Gruppenformation sowohl stabil als auch flexibel zu sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Fischschwarm: Hunderte von Individuen in perfekter Ordnung und gleichförmiger Ausrichtung können in Sekundenschnelle wie ein Wirbelsturm auseinanderdriften, um einem räuberischen Angriff auszuweichen. Tiergruppen müssen eine empfindliche Balance bewahren, einerseits bei geringen Störfaktoren wie Strudel oder Windböen in ihrer Formation stabil zu bleiben, andererseits reaktionsfähig zu sein gegenüber entscheidenden Ereignissen wie der Annäherung eines Fressfeindes.
Wie ihnen dieser Spagat gelingt, ist noch nicht verstanden. In den vergangenen Jahren wurde allerdings diskutiert, ob das Verhalten in Verbindung mit einem kritischen Phasenübergang gebracht werden kann. Da dieses physikalische Konzept einerseits die Stabilität, aber auch den spontanen Wechsel zwischen den Zuständen erklärt, ist es naheliegend zu vermuten, dass die Natur dieses Konzept auch auf biologische Systeme anwendet.
„Die Kombination von Stabilität und hoher Reaktionsfähigkeit auf äußere Störungen ist genau das, was einen kritischen Punkt kennzeichnet“, sagt Clemens Bechinger von der Uni Konstanz. „So war es für uns folgerichtig zu untersuchen, ob das Modell der Kritikalität auch jene Muster erklären kann, die wir im Verhalten von Kollektiven beobachten können.“
Die Hypothese, dass sich kollektive Zustände nahe an einem kritischen Punkt befinden, wurde in der Vergangenheit hauptsächlich durch numerische Simulationen gestützt. Mit ihrer neuen Studie haben Bechinger und sein Team nun die mathematische Vorhersage experimentell untermauert. „Unsere Forschungsergebnisse zeigen einen engen Zusammenhang zwischen kollektiven Prozessen und kritischen Phänomenen. Sie tragen nicht nur zum grundsätzlichen Verständnis kollektiver Zustände bei, sondern legen darüber hinaus auch nahe, dass allgemeine physikalische Prinzipien auch auf lebende Systeme anwendbar sind“, so Bechinger.
In ihren Experimenten verwendeten die Forscher kleinste Glaspartikel, die auf einer Seite mit einer Kohlenstoffkappe beschichtet und in eine viskose Flüssigkeit gegeben wurden. Wenn diese Partikel mit Licht angestrahlt werden, schwimmen sie in ähnlicher Weise wie Bakterien, jedoch mit einem wichtigen Unterschied: Jeder Aspekt, wie die Partikel in ihrer Bewegung auf ihre Nachbarn reagieren, kann präzise gesteuert werden. Da Interaktionsregeln von lebenden Organismen nur begrenzt kontrollierbar sind, ermöglichen diese Systeme es den Wissenschaftlern, Zusammenhänge zwischen der Art und Weise, wie Individuen aufeinander reagieren, und deren kollektives Verhalten zu untersuchen. „Wir entwerfen die Regeln zunächst am Computer und beobachten anschließend im Experiment, wie sich diese Regeln auf das Gruppenverhalten der Teilchen auswirkt“, so Bechinger.
Um sicherzustellen, dass das physikalische System eine Vergleichbarkeit zu lebenden Systemen aufweist, gaben die Forscher den Partikeln Interaktionsregeln, die das Verhalten von Tieren widerspiegeln. So legten sie beispielsweise fest, dass sich einerseits die Bewegungsrichtungen der einzelnen Partikel ihren Nachbarn anpassen. Andererseits wurden die Teilchen so programmiert, dass sie versuchen, sich ungefähr in Richtung des Gruppenmittelpunktes zu bewegen. In Abhängigkeit des relativen Gewichts dieser beiden Interaktionsregeln formierten sich die Partikel in Wirbeln oder als ungeordnete Schwärme. Werden die Interaktionsregeln nur geringfügig verändert, lassen sich schnelle Übergänge zwischen einem Wirbel und einem Schwarm beobachten. „Ein solcher Wechsel zwischen verschiedenen kollektiven Zuständen ist ein deutlicher Hinweis auf ein kritisches Verhalten“, so Bechinger.
Die Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen Kollektivität und kritischem Verhalten in lebenden Systemen und gibt zugleich Hinweise, wie Schwarmintelligenz für konkrete Anwendungen technisch umgesetzt werden kann. Die Forschungsergebnisse könnten unter anderem dazu beitragen, effiziente Verfahren für autonome Mikrorobotikgeräte mit eingebauten Steuerungseinheiten zu entwickeln. Solche Mikrorobotikgeräte müssen sich in ähnlicher Weise wie ihre biologischen Gegenstücke spontan an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen können und mit unvorhergesehenen Situationen fertig werden. Das könnte erreicht werden, indem man ihre Funktionsweise gemäß des Prinzips des kritischen Punktes ausrichtet.
U. Konstanz / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
T. Bäuerle, R. C. Löffler & C. Bechinger: Formation of stable and responsive collective states in suspensions of active colloids, Nat. Commun. 11, 2547 (2020); DOI: 10.1038/s41467-020-16161-4 - Exzellenzcluster „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“, Universität Konstanz