Postfach 1663
«Postfach 1663» war in den 40er Jahren die geheimste aller Adresse in den USA: Dort wurde die Atombombe entwickelt.
Los Alamos (dpa) «Postfach 1663» war in den 40er Jahren die geheimste aller Adresse in den USA. Dass sich dahinter eine aus dem Boden gestampfte Kleinstadt verbarg, die auf keiner Landkarte verzeichnet war, ahnten selbst Angehörige der Einwohner nicht. Los Alamos, auf einer einsamen Hochebene im Bundesstaat Neu Mexico gelegen, existierte offiziell nicht. Die Bürger von «Postfach 1663», darunter die prominentesten Physiker und Ingenieure ihrer Zeit, arbeiteten mit Hochdruck an einem Waffenprojekt, das die Welt verändern sollte. Ihre Arbeit gipfelte vor 60 Jahren, am 16. Juli 1945 um 05.29 Uhr und 45 Sekunden in einer gewaltigen Explosion. In der Wüste von New Mexico explodierte die erste Atombombe der Welt.
Die Geburtshelfer waren sich der monumentalen Bedeutung wohl bewusst. «Alle schienen zu fühlen, dass sie bei der Geburt eines neuen Zeitalters dabei waren, des Zeitalters der Atomenergie, und spürten die tiefe Verantwortung, die gewaltigen Kräfte, die erstmals in der Geschichte entfesselt worden waren, in die richtigen Kanäle zu lenken», schrieb einer von ihnen, General Thomas Farrell, später.
Er war einer der gut 250 Beobachter, die an jenem Morgen den ersten Atompilz der Geschichte zwölf Kilometer in die Luft aufsteigen sahen. Farrell lag wie die anderen in einem der drei Kommandostände rund neun Kilometer von dem Sprengsatz im Raketenübungsgelände Alamogordo entfernt bäuchlings auf dem Boden. «Jetzt!» schrie Physiker Sam Allison nach 20-minütigem Countdown ins Mikrofon und sein Kollege Joe McKibben drückte auf den Knopf. Die Detonation des Sprengsatzes, Codename «Trinity», entlud sich zunächst in gleißendem Licht, gefolgt von einer mächtigen Schallwelle 40 Sekunden später, die noch in 60 Kilometern Entfernung zu spüren war.
«Was für eine Explosion!» schrieb der militärische Leiter des Projekts, Leslie Groves, zwei Tage später an den Kriegsminister. «Lokalzeitungen brachten Augenzeugenberichte, darunter den von einer blinden Frau, die das Licht sah.» Und Farrell schwärmte: «Das Licht war von einer Schönheit, wie sie die größten Dichter erträumen, die sie aber nur schlecht und unzureichend beschreiben können.»
Die Wissenschaftler hatten vorher Wetten über die Sprengkraft abgelegt. Niemand wusste, was bei der Detonation genau zu erwarten war. Am Ende wurde eine Sprengkraft von knapp 20 Kilotonnen TNT gemessen. Sie riss einen drei Meter tiefen und 330 Meter breiten Krater in den Wüstenboden, wo der Sand zu grünlichem Glas schmolz. Das Gelände ist bis heute militärische Sperrzone. Der Öffentlichkeit machte das Militär weiß, ein Munitionslager sei in die Luft gegangen. Erst nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima drei Wochen später lüfteten sie das Geheimnis.
«Trinity» war das Ergebnis des höchst geheimen Manhattan-Projekts. Aus Europa geflüchtete Wissenschaftler schlossen nicht aus, dass Deutschland die 1938 entdeckte Kernspaltung zum Bau einer Bombe nutzen könnte und brachten Albert Einstein dazu, US-Präsident Franklin D. Roosevelt im August 1939 auf die Gefahr hinzuweisen. Die US-Regierung beschloss daraufhin, selbst mit Hochdruck an einer Atombombe zu arbeiten. 30 Forschungslabore waren daran beteiligt.
Mit der Entwicklung der eigentlichen Bombentechnologie wurde der Physiker Robert Oppenheimer beauftragt. Er fand 1942 mit Los Alamos den idealen Standort für seine Labore. Ein dort gelegenes Internat mit 27 Gebäuden wurde kurzerhand vereinnahmt. Dutzende weiterer Gebäude wurde in Windeseile hochgezogen. Innerhalb von Monaten arbeiteten mehrere tausend Menschen dort.
Der Leben hinter dem Stacheldraht von Los Alamos war nicht einfach. Der Kontakt nach draußen wurde kontrolliert, Briefe zensiert. «Für unbestimmte Zeit in der Wüste zu verschwinden und unter quasi-militärischen Drill zu leben, verstörte eine Menge Wissenschaftler und Familien», schrieb Oppenheimer später. So geheim war der Standort, das die dort geborenen Kinder bis heute offiziell mit dem «Geburtsort: Postfach 1663» leben müssen. Dennoch arbeiteten dort brillante Köpfe wie Enrico Fermi, Neils Bohr, Edward Teller und Hans Bethe, und ein gewisser Klaus Fuchs, ein gebürtiger Deutscher mit britischem Pass, der 1950 als Sowjet-Spion entlarvt wurde.
Los Alamos ist bis heute eines der führenden Zentren für Kern- und Grundlagenforschung. 6 000 Menschen arbeiten hier. Die Wissenschaftler stehen mit neu entwickelten Computermodellen zu möglichen Folgen von Terroranschlägen auch in der Terrorabwehr an vorderster Front. Die Sicherheitsvorkehrungen sind nach wie vor enorm: Besucher, die sich auf dem Weg zum Atomgeschichtsmuseum verfahren, werden innerhalb von Minuten von Polizisten angehalten und müssen sich ausweisen.
Christiane Oelrich, dpa