14.05.2010

Quantendynamik von Materiewellen enthüllt Mehrteilchen-Kollisionen

Wissenschaftler weisen erstmals exotische Mehrteilchenwechselwirkung an ultrakalten Atomen in einem optischen Gitter nach.

Wissenschaftler weisen erstmals exotische Mehrteilchenwechselwirkung an ultrakalten Atomen in einem optischen Gitter nach.

Bei extrem tiefen Temperaturen können sich Atome in sogenannten Bose-Einstein-Kondensaten zu kohärenten, laserartigen Materiewellen zusammenschließen. Aufgrund der Wechselwirkungen der Atome untereinander entwickeln diese Materiewellen eine Art Eigendynamik, die zu einem zeitlich periodischen Zusammenbrechen und Wiederaufleben des Wellenfeldes führt. Einer Gruppe um Immanuel Bloch (Lehrstuhl für Experimentalphysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor der Abteilung Quanten-Vielteilchensysteme am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München) gelang es jetzt erstmals, diese Quantendynamik über lange Zeiten hinweg zu beobachten. Dazu erzeugten die Forscher Tausende von Miniatur-Bose-Einstein-Kondensaten, regelmäßig angeordnet in einem "optischen Gitter", und verfolgten das Zusammenbrechen und Wiederaufleben der Materiewellen. Die genaue Analyse der Messreihen enthüllte eine komplexe Struktur in dieser Dynamik, die durch fundamentale Vielteilchenwechselwirkungen verursacht wird: entgegen gängigen Annahmen spielen dabei nicht nur paarweise Wechselwirkungen, sondern auch Stöße zwischen mehreren Atomen eine wichtige Rolle. Dieses Ergebnis ist einerseits von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis von Quanten-Vielteilchensystemen; es ermöglicht andererseits die Erzeugung neuer exotischer Materiezustände, die auf solchen Vielteilchenwechselwirkungen basieren.

Abb.: Zusammenbrechen und Wiederaufleben des Materiewellenfeldes: In der Quantendynamik von ultrakalten Bose-Einstein Kondensaten in einem optischen Gitter sind exotische Mehrteilchen-Kollisionen nachweisbar. Das Bild zeigt eine Abfolge von Interferenzbildern, die im Abstand von jeweils 40 Mikrosekunden aufgenommen wurden. Ein einzelner Zyklus der Dynamik ist farblich hervorgehoben. (Bild: MPQ)

Das Experiment beginnt damit, eine dünne Wolke aus mehreren hunderttausend Atomen auf Temperaturen dicht über dem absoluten Nullpunkt abzukühlen. Bei diesen Temperaturen bildet sich ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC) aus, eine Quantenphase, in der sich alle Atome im gleichen Quantenzustand befinden. Diesem BEC wird nun ein optisches Gitter überlagert: das ist eine Art künstlicher Kristall aus Licht, in dem sich durch Überlagerung mehrerer stehender Laserlichtwellen helle und dunkle Gebiete periodisch abwechseln. In diesem – einem Eierkarton ähnlichen – Kristall verteilen sich die Atome auf die Gitterplätze. Doch während in einem echten Eierkarton in einer Kuhle entweder genau ein Ei oder gar keins sitzt, werden die Besetzungszahlen hier von den Gesetzen der Quantenmechanik geregelt. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit für ein oder zwei Atome an einem Gitterplatz am größten, aber bei entsprechender Einstellung der Gitterhöhe (d.h. der Laserintensität) können auch drei, vier oder mehr Atome vorkommen. Und da es sich hier um Quantenteilchen handelt, können alle Besetzungszahlen – mit unterschiedlichem Gewicht – gleichzeitig auftreten.

Die Existenz dieser Überlagerungszustände ist der Schlüssel für das neue Messprinzip. "So wie Pendel unterschiedlicher Länge auch unterschiedliche Schwingungsfrequenzen haben, so ist jeder Besetzungszustand durch eine bestimmte Eigenfrequenz charakterisiert", erklärt der Wissenschaftler Sebastian Will. "Stöße zwischen den Atomen beeinflussen die Eigenfrequenzen. Würden die Atome z.B., wie bislang angenommen, immer nur paarweise zusammenstoßen, dann wären die Frequenzen höherer Besetzungszustände immer ein Vielfaches der Grundfrequenz eines Zweierzustands."

Mit einer trickreichen experimentellen Anordnung gelang es den Physikern, die Überlagerung der verschiedenen Schwingungen in ihrer zeitlichen Entwicklung zu verfolgen. Die Wissenschaftler konnten beobachten, dass in regelmäßigen Zeitabständen Interferenzbilder auftreten – ein Zeichen dafür, dass die Schwingungen im Gleichtakt sind – und wieder zusammenfallen. "Intensität und Periodizität der Interferenzbilder ergeben ein Schwebungsmuster, das sich mit einer reinen Paar-Wechselwirkung nicht in Einklang bringen lässt", erklärt Sebastian Will. "Vielmehr muss ein komplexerer Stoßmechanismus wirksam sein, der auch die Wechselwirkung von mehreren Atomen miteinander – wir konnten eine Beteiligung von bis zu sechs nachweisen – einschließt." Solche exotischen Stöße sind möglich, da Heisenbergs Unschärfeprinzip den Atomen erlaubt, während der Kollision einen virtuellen Umweg über energetisch höher gelegene Quantenzustände zu nehmen.

Dieses Resultat ist überraschend und von grundlegender Bedeutung, um die Wechselwirkung zwischen mikroskopischen Teilchen besser zu verstehen. Gleichzeitig demonstriert es, mit welchem hohen Grad an Kontrolle sich Quantenmaterie in optischen Gittern manipulieren lässt. Diese außergewöhnliche Steuerbarkeit wollen die Wissenschaftler nutzen, um komplexe Festkörpersysteme zu "simulieren" und die der Supraleitung oder dem Quantenmagnetismus zugrunde liegende Physik zu erklären. Ein weiterer Vorteil von optischen Gittern liegt darin, dass jeder der mehreren hunderttausend Gitterplätze ein Miniaturlabor darstellt, um exotische Quantenzustände zu erzeugen. Dies macht diese Anordnungen zu den wahrscheinlich empfindlichsten Messinstrumenten für die Beobachtung atomarer Stöße.

Max-Planck-Institut für Quantenoptik

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