Querkopf mit langem Atem
Zum 100. Geburtstag von Raymond Davis jr., der für den Nachweis von Sonnen-Neutrinos im Jahr 2002 den Nobelpreis erhielt.
Mit einer Mischung aus Sturheit und Optimismus vermaß Raymond Davis über 30 Jahre in einer ehemaligen Goldmine den exakten Fluss der Sonnen-Neutrinos. Aus der Sicht seiner Kollegen war dies ein aussichtsloses Unterfangen. Doch Davis’ Ausdauer zahlte sich aus: Mit 88 Jahren erhielt der Chemiker als ältester Laureat den Nobelpreis für Physik.
Geboren am 14. Oktober 1914 in Washington D.C., begann Raymond Davis schon als Junge, im Keller des Elternhauses zu experimentieren. Das verdankte er dem Einfluss seines Vaters. Obwohl Fotograf und Autodidakt ohne High-School-Abschluss hatte dieser es dank einiger nützlicher Erfindungen zum Leiter der Photographisch-Technischen Abteilung beim National Bureau of Standards gebracht. Davis Junior studierte Chemie an der University of Maryland und machte 1938 seinen Abschluss. Nach einem Jahr in der chemischen Industrie kehrte er an die Universität zurück, machte seinen Master und promovierte anschließend in Yale.
1942 zog die Army den frisch gebackenen Doktor der physikalischen Chemie als Reserveoffizier ein. Bis zum Kriegsende testete er chemische Waffen auf dem Testgelände Dugway Proving Ground in Utah. 1945 wechselte er zunächst zu Monsanto Chemicals, wo er radiochemische Methoden entwickelte, die für die Atomenergie-Behörde von Interesse waren. Die Freiheit der Grundlagenforschung begann für ihn erst mit 34 Jahren am neu gegründeten Brookhaven National Laboratory. Dort lernte er auch seine spätere Frau Anna kennen, mit der er fünf Kinder hatte.
Da ihm die Wahl seines Forschungsthemas selbst überlassen blieb, entschied sich Davis, sein radiochemisches Können zum Nachweis der damals nur hypothetischen Neutrinos anzuwenden. Der Italiener Bruno Pontecorvo hatte zwei Jahre zuvor vorgeschlagen, den Neutrino-Einfang in Chlor-37 nachzuweisen. Das dabei entstehende radioaktive Argon-37 zerfällt in einem Beta-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 35 Tagen. Davis ließ neben dem Graphit-Forschungsreaktor in Brookhaven einen Tank mit 1000 Gallonen (3785 Litern) des Reinigungsmittels Kohlenstoff-Tetrachlorid aufbauen. Das Ergebnis war negativ. 1955 startete er einen zweiten Versuch neben dem Savannah River Reaktor, da dieser laut Berechnungen einen deutlich höheren Neutrinofluss erzeugen sollte. Doch auch dieses Experiment blieb ergebnislos.
Wie sich später heraus stellen sollte, lag dies daran, dass Neutrinos und ihre Anti-Teilchen nicht identisch sind. Das Experiment von Davis konnten die im Reaktor entstehenden Anti-Neutrinos nicht nachweisen. Der erste Nachweis von Anti-Neutrinos gelang 1956 Clyde Cowan und Frederick Reines – ebenfalls am Savannah Riverside Reaktor. In ihrem Experiment ließen sie Anti-Neutrinos mit Protonen in einem Wassertank wechselwirken und wiesen die entstehenden Neutronen und Positronen nach. Davis ließ sich nicht entmutigen. Da seine Methode eine 20-fach höhere Nachweisempfindlichkeit hatte als das Experiment seiner Konkurrenten, beschloss er, sich dem Nachweis von Sonnen-Neutrinos zuzuwenden.
Raymond Davis nahm 1971 ein Bad im Wasser, das den Perchloräthylen-Tank tief in der Homestake-Mine umgab. (Foto: Brookhaven National Laboratory)
Allerdings war die Energieschwelle der Cl-Ar-Reaktion mit 814 keV zu hoch, um die häufigsten Sonnen-Neutrinos, die bei der Fusion zweier Protonen entstehen, nachzuweisen. Davis musste sich daher auf eine Nebenreaktion beschränken, bei der deutlich weniger Neutrinos entstehen. Mit Unterstützung des Brookhaven National Laboratories und der Atomenergie-Behörde begann er in den 1960er-Jahren ein neues Experiment in der Homestake Gold Mine in Lead, South Dakota. Dort brachte er 1400 Meter unter der Erde einen Tank mit rund 380.000 Liter des Trockenreinigungsmittels Perchloräthylen unter. Der berechnete Wirkungsquerschnitt für die Nachweisreaktion ergab nur einige Atome pro Monat. Allein schon, um eine ausreichende Statistik zu erhalten, mussten er und seine wenigen treuen Mitarbeiter die Versuche über drei Jahrzehnte fortführen. Zusätzlich galt es, Nebenreaktionen und Rückhalteeffekte zu kontrollieren.
„Es wurde zum Ritual, Davis für seinen heroischen Versuch zur Bewältigung des Unmöglichen zu bewundern, aber dann im kleinen Kreis durchblicken zu lassen, dass er eben doch ein Don Quixote ist“, erinnerte sich sein deutscher Kollege Till Kirsten anlässlich der Nobelpreisverleihung 2002. „Große Hilfe von Brookhaven erhielt er nicht, weder von der Administration noch von den meisten Kollegen. Die vergleichsweise minimalen Mittel zum Weiterbetrieb des Experiments wurden immer wieder in Frage gestellt.“
Nach 30 Jahren publizierte Davis ein unerwartetes Ergebnis: Die gemessene Neutrino-Rate betrug nur ein Drittel derjenigen, die aus dem Sonnenmodell vorhergesagt worden war. Da er zu fast jedem vernünftigen Einwand seiner Kollegen Begleitexperimente gemacht hatte, um systematische Fehler auszuschließen, blieben nur zwei Erklärungen: Abweichungen vom Standard-Sonnen-Modell oder Neutrino-Oszillationen auf dem Weg von der Sonne zur Erde. Heute ist die zweite Erklärung allgemein anerkannt. Für das bis dahin geltende Standardmodell der Elementarteilchen, in dem die Neutrinos ohne Masse waren, hatte das weitreichende Konsequenzen.
„Ray war der optimistischste Mensch, den man sich vorstellen kann“, sagte einer seiner engsten Mitarbeiter Kenneth Lande, als Davis im Alter von 92 Jahren starb. Er habe Herausforderungen geliebt: „Je größer die Herausforderung, desto mehr Spaß machte es ihm, sie in Angriff zu nehmen.“
Anne Hardy