Rechnen mit Spin-Eis
Magnetische Phasenübergänge in künstlichem Kagome-Spin-Eis nachgewiesen.
Forschende am Paul Scherrer Institut PSI in der Schweiz haben zum ersten Mal beobachtet, wie sich winzige Magnete in einer speziellen Anordnung nur aufgrund von Temperaturänderungen ausrichten. Der Einblick in die Vorgänge innerhalb von künstlichem Spin-Eis könnte eine wichtige Rolle spielen bei der Entwicklung neuartiger Hochleistungsrechner.

Im Labor lassen sich Kristalle herstellen, bei denen die Spins mit Eis vergleichbare Strukturen bilden. „Wir haben künstliches Spin-Eis hergestellt, das im Wesentlichen aus Nanomagneten besteht, die so klein sind, dass sich ihre Ausrichtung einzig aufgrund der Temperatur ändern kann“, sagt Physiker Kevin Hofhuis, der soeben seine Doktorarbeit am PSI abgeschlossen hat. Im verwendeten Material sind die Nanomagnete in hexagonalen Strukturen angeordnet – ein Muster, das man aus der japanischen Korbflechtkunst unter dem Namen „Kagome“ kennt. „Bei künstlichem Kagome-Spin-Eis wurden magnetische Phasenübergänge theoretisch vorhergesagt, aber bisher nie beobachtet“, sagt Laura Heyderman, Leiterin des Labors für Multiskalen-Materialien-Experimente. „Der Nachweis von Phasenübergängen gelang nun dank der Anwendung modernster Lithografie bei der Herstellung des Materials im PSI-Reinraum sowie einer speziellen Mikroskopie-Methode an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS.“
Für ihre Proben verwendeten die Forschenden eine Nickel-Eisen-Verbindung, ein µ-Metall, das als dünner Film auf ein Siliziumsubstrat aufgetragen wurde. Auf dieser Oberfläche wurde mit einem Lithografie-Verfahren wiederholt das kleine, hexagonale Muster der Nanomagnete geformt, wobei ein Nanomagnet etwa einen halben Mikrometer lang und ein sechstel Mikrometer breit war. „Der Trick war, dass wir die Nanomagnete mit winzigen magnetischen Brücken verbanden“, sagt Hofhuis. „Dadurch kam es zu kleinen Veränderungen des Systems, die es uns erst ermöglichten, den Phasenübergang so abzustimmen, dass wir ihn beobachten konnten. Allerdings mussten diese Brücken wirklich sehr klein sein, denn wir wollten das System nicht allzu sehr verändern.“ Mit der Schaffung der Nanobrücken stieß Hofhuis an die Grenzen der technisch möglichen, räumlichen Auflösung der heutigen Lithografie-Methoden. Einige der Brücken sind nur zehn Nanometer groß.
An der Synchrotronquelle verwendete das Team die Photoemissions-Elektronenmikroskopie, um den magnetischen Zustand jedes einzelnen Nanomagneten in der Anordnung zu beobachten. „Wir konnten ein Video aufnehmen, das zeigt, wie die Nanomagnete miteinander wechselwirken und dies allein als Funktion der Temperatur“, sagt Hofhuis. Bei den ursprünglichen Bildern handelte es sich um einfache Schwarz-Weiß-Kontraste, die ab und zu wechselten. Daraus konnten die Forschenden die Konfiguration der Spins ableiten. „Sieht man sich ein solches Video an, weiss man aber noch nicht, in welcher Phase man sich befindet“, erklärt Hofhuis. Dazu brauchte es theoretische Überlegungen, die PSI-Physiker Peter Derlet beisteuerte. Seine Simulationen zeigten, was theoretisch bei den Phasenübergängen geschehen sollte. Erst der Vergleich der aufgenommenen Bilder mit diesen Simulationen bewies, dass es sich bei den mikroskopisch beobachteten Vorgängen tatsächlich um Phasenübergänge handelt.
Die neue Studie ist ein weiterer Erfolg in der Erforschung von künstlichem Spin-Eis, welches die Gruppe von Laura Heyderman seit mehr als einem Jahrzehnt untersucht. „Das Großartige an diesen Materialien ist, dass wir sie maßschneidern und direkt sehen können, was in ihnen passiert“, sagt die Physikerin. „Wir können alle möglichen faszinierenden Verhaltensweisen beobachten, darunter die Phasenübergänge und Ordnungen, die vom Layout der Nanomagnete abhängen. Dies ist bei Spin-Systemen in herkömmlichen Kristallen nicht möglich.“ Obwohl diese Untersuchungen zurzeit noch reine Grundlagenforschung sind, denken die Forschenden bereits an mögliche Anwendungen. Die Kontrolle von verschiedenen magnetischen Phasen könnte für neuartige Arten der Datenverarbeitung interessant sein. Am PSI und anderswo wird untersucht, wie die Komplexität von künstlichem Spin-Eis für neuartige Hochgeschwindigkeitsrechner mit geringem Stromverbrauch genutzt werden könnte. „Dabei orientiert man sich an der Informationsverarbeitung im Gehirn und macht sich zunutze, wie das künstliche Spin-Eis auf einen Reiz wie ein Magnetfeld oder elektrischen Strom reagiert“, erklärt Heyderman.
PSI / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
K. Hofhuis et al.: Real-space imaging of phase transitions in bridged artificial kagome spin ice, Nat. Phys., online 4. April 2022; DOI: 10.1038/s41567-022-01564-5 - Labor für Multiskalen-Materialien-Experimente, Paul Scherrer Institut PSI, Villigen, Schweiz