05.04.2022

Rechnen mit Spin-Eis

Magnetische Phasenübergänge in künstlichem Kagome-Spin-Eis nachgewiesen.

Forschende am Paul Scherrer Institut PSI in der Schweiz haben zum ersten Mal beobachtet, wie sich winzige Magnete in einer speziellen Anordnung nur aufgrund von Temperatur­änderungen ausrichten. Der Einblick in die Vorgänge innerhalb von künstlichem Spin-Eis könnte eine wichtige Rolle spielen bei der Entwicklung neuartiger Hochleistungs­rechner.

Abb.: Aufnahme von lithografisch erzeugtem künstlichen Kagome-Spin-Eis mit...
Abb.: Aufnahme von lithografisch erzeugtem künstlichen Kagome-Spin-Eis mit einem Rasterelektronen­mikroskop. Sie zeigt die durch magnetische Brücken asymmetrisch verbundenen Permalloy-Magnete im Nanomaßstab. (Bild: K. Hofhuis)

Im Labor lassen sich Kristalle herstellen, bei denen die Spins mit Eis vergleichbare Strukturen bilden. „Wir haben künstliches Spin-Eis hergestellt, das im Wesentlichen aus Nano­magneten besteht, die so klein sind, dass sich ihre Ausrichtung einzig aufgrund der Temperatur ändern kann“, sagt Physiker Kevin Hofhuis, der soeben seine Doktorarbeit am PSI abgeschlossen hat. Im verwendeten Material sind die Nanomagnete in hexa­gonalen Strukturen angeordnet – ein Muster, das man aus der japanischen Korbflecht­kunst unter dem Namen „Kagome“ kennt. „Bei künstlichem Kagome-Spin-Eis wurden magnetische Phasenübergänge theoretisch vorhergesagt, aber bisher nie beobachtet“, sagt Laura Heyderman, Leiterin des Labors für Multi­skalen-Materialien-Experi­mente. „Der Nachweis von Phasen­übergängen gelang nun dank der Anwendung modernster Lithografie bei der Herstellung des Materials im PSI-Reinraum sowie einer speziellen Mikro­skopie-Methode an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS.“

Für ihre Proben verwendeten die Forschenden eine Nickel-Eisen-Verbindung, ein µ-Metall, das als dünner Film auf ein Silizium­substrat aufgetragen wurde. Auf dieser Oberfläche wurde mit einem Litho­grafie-Verfahren wiederholt das kleine, hexagonale Muster der Nano­magnete geformt, wobei ein Nanomagnet etwa einen halben Mikrometer lang und ein sechstel Mikrometer breit war. „Der Trick war, dass wir die Nanomagnete mit winzigen magnetischen Brücken verbanden“, sagt Hofhuis. „Dadurch kam es zu kleinen Veränderungen des Systems, die es uns erst ermöglichten, den Phasen­übergang so abzustimmen, dass wir ihn beobachten konnten. Allerdings mussten diese Brücken wirklich sehr klein sein, denn wir wollten das System nicht allzu sehr verändern.“ Mit der Schaffung der Nano­brücken stieß Hofhuis an die Grenzen der technisch möglichen, räumlichen Auflösung der heutigen Litho­grafie-Methoden. Einige der Brücken sind nur zehn Nanometer groß.

An der Synchrotron­quelle verwendete das Team die Photo­emissions-Elektronen­mikroskopie, um den magnetischen Zustand jedes einzelnen Nanomagneten in der Anordnung zu beobachten. „Wir konnten ein Video aufnehmen, das zeigt, wie die Nanomagnete miteinander wechselwirken und dies allein als Funktion der Temperatur“, sagt Hofhuis. Bei den ursprünglichen Bildern handelte es sich um einfache Schwarz-Weiß-Kontraste, die ab und zu wechselten. Daraus konnten die Forschenden die Konfi­guration der Spins ableiten. „Sieht man sich ein solches Video an, weiss man aber noch nicht, in welcher Phase man sich befindet“, erklärt Hofhuis. Dazu brauchte es theoretische Überlegungen, die PSI-Physiker Peter Derlet beisteuerte. Seine Simu­lationen zeigten, was theoretisch bei den Phasenübergängen geschehen sollte. Erst der Vergleich der aufge­nommenen Bilder mit diesen Simulationen bewies, dass es sich bei den mikroskopisch beobachteten Vorgängen tatsächlich um Phasen­übergänge handelt.

Die neue Studie ist ein weiterer Erfolg in der Erforschung von künstlichem Spin-Eis, welches die Gruppe von Laura Heyderman seit mehr als einem Jahrzehnt untersucht. „Das Großartige an diesen Materialien ist, dass wir sie maß­schneidern und direkt sehen können, was in ihnen passiert“, sagt die Physikerin. „Wir können alle möglichen faszinierenden Verhaltensweisen beobachten, darunter die Phasen­übergänge und Ordnungen, die vom Layout der Nanomagnete abhängen. Dies ist bei Spin-Systemen in herkömmlichen Kristallen nicht möglich.“ Obwohl diese Untersuchungen zurzeit noch reine Grundlagen­forschung sind, denken die Forschenden bereits an mögliche Anwendungen. Die Kontrolle von verschiedenen magne­tischen Phasen könnte für neuartige Arten der Daten­verarbeitung interessant sein. Am PSI und anderswo wird untersucht, wie die Komplexität von künstlichem Spin-Eis für neuartige Hoch­geschwindigkeits­rechner mit geringem Strom­verbrauch genutzt werden könnte. „Dabei orientiert man sich an der Informations­verarbeitung im Gehirn und macht sich zunutze, wie das künstliche Spin-Eis auf einen Reiz wie ein Magnetfeld oder elektrischen Strom reagiert“, erklärt Heyderman.

PSI / JOL

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