Reibung Atom für Atom
Ionischer Kristall über optischem Gitter erlaubt atomare Simulation von Reibungseffekten.
Gleiten zwei Materialien mit glatter und geordneter Oberfläche übereinander, so kommt häufig Haftgleitreibung ins Spiel. Dieser im Englischen als stick-slip-friction bezeichnete Effekt tritt in unterschiedlichsten Größenordnungen auf. Besonders bei kleinen, atomaren Materialien, wie etwa biologischen Molekülen, ist er der bestimmende Faktor. Aber auch Erdbeben unterliegen diesem Phänomen. Bei der Haftgleitreibung haften zwei Oberflächen aufeinander, bis die externe Kraft stark genug ist, um sie in Bewegung zu versetzen. Dabei wird solange Bewegungsenergie in Reibungswärme umgesetzt, bis die Bewegung wieder zum Erliegen kommt.
Abb.: Zwei bis sechs gekoppelte Ytterbium-Ionen werden in verschiedenen Winkeln über ein optisches Gitter gezogen. (Bild: A. Bylinskii et al.)
Obwohl die ersten Theorien zu Reibungsphänomenen schon von Leonardo da Vinci stammen, ist bis heute wenig über das Reibungsverhalten auf atomarer Ebene bekannt. Zwar gibt es mittlerweile Versuche mit Quarz-Mikrowaagen oder Rasterkraftmikroskopen, die winzige Materialproben untersuchen können. Doch bislang ist wirkliche atomare Kontrolle schwierig. Insbesondere das Phänomen der Supraschmierfähigkeit ist noch schlecht verstanden. Unter bestimmten Bedingungen, etwa wenn die Kristallgitter zweier Nanooberflächen nicht in einem rationalen Verhältnis zueinander stehen, sondern sich schräg überlappen, sinkt die Reibung drastisch.
Vladan Vuleti und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology haben deshalb ein künstliches Modellsystem geschaffen, das eine extrem präzise Kontrolle über die atomaren Eigenschaften bei Reibungsprozessen gewährleistet. Statt zwei Materialproben relativ zueinander zu bewegen, zogen sie einen ionischen Kristall aus zwei bis sechs Ytterbium-Ionen durch ein optisches Gitter. So lassen sich Reibungsphänomene mit extrem wenigen involvierten Teilchen simulieren und mit theoretischen Modellen vergleichen.
Die einfach ionisierten Ytterbium-174-Atome fingen die Wissenschaftler in einer linearen Paul-Falle mit harmonischem Potenzial ein. Aufgrund ihrer Coulomb-Abstoßung ordneten sich die Ytterbium-Ionen zu einem linearen ionischen Kristall an. Die Ionen kühlten die Forscher per Laserkühlung bis in den Sub-Millikelvin-Bereich herunter. Die Ionen überlagerten sie dann mit einem optischen Gitter mit einer Periode von 185 Nanometern. Die Position der Ytterbium-Ionen konnten die Wissenschaftler dabei mit einer Genauigkeit im Bereich von Nanometern kontrollieren. Das ist notwendig, um die Reibungsphänomene möglichst exakt in Abhängigkeit vom Winkel zwischen ionischen Kristall und optischem Gitter zu bestimmen. In gerader Richtung, wenn jedes einzelne Ion den Potenzialberg gleichzeitig mit den anderen spürt, sollte die Reibung maximal sein.
Supraschmierfähigkeit sollte jedoch auftreten, wenn Ionen und optisches Gitter in einem inkommensurablen Seitenverhältnis zueinander standen. Tatsächlich nahm dann die Reibung drastisch ab, und zwar wie erwartet in Abhängigkeit von der Teilchenzahl. Bei nur zwei Ytterbium-Ionen verringerte sich die Reibung bereits um den Faktor zehn, bei sechs Ionen um den Faktor hundert. Bei den Versuchen mussten die Wissenschaftler die Laserkühlung laufend aufrechterhalten, weil die atomare Reibungswärme die Ionen sonst zu stark durcheinander gebracht hätte.
Die Ergebnisse bestätigen das theoretische Reibungsmodell von Frenkel und Kontorova aus dem Jahr 1938. Dieses Modell behandelt die Reibung, als wäre sie durch ein unendlich ausgedehntes Atomgitter verursacht, dessen Atome über Federn miteinander verbunden sind. Damit lässt sich insbesondere die Verminderung der Reibung bei schräg aufeinander stehenden Kristallgittern beschreiben. Dass das nun durchgeführte Experiment damit in so gutem Einklang steht, ist vor allem deshalb überraschend, weil bereits wenige Atome ein solches Verhalten hervorrufen, wie es das Modell für unendlich viele beschreibt.
Mit dem nun realisierten Aufbau von Vuleti und seinen Kollegen lassen sich Reibungphänomene zwar unter sehr exakt definierten Bedingungen studieren. Das Experiment der Arbeitsgruppe besitzt jedoch auch seine Grenzen. Einerseits ist die Anordnung der Ytterbium-Ionen linear, weshalb es nur als eindimensionales Modell dienen kann. Andererseits kann die Wechselwirkung der Ionen mit einem optischen Gitter nur eine ungefähre Entsprechung mit realen Materialien liefern. In Zukunft hoffen die Wissenschaftler jedoch, auch die interne Kopplung zwischen den Ionen ausnutzen zu können, um dann spinabhängige Transport- und Reibungsphänomene zu testen. Zudem könnten quantenmechanische Tunneleffekte zu interessanten neuen Quantenphasen führen.
Dirk Eidemüller