Rettet die Wandtafel!
Ein Plädoyer für die Langsamkeit in der Hochschullehre
Physik Journal – Ein Plädoyer für die Langsamkeit in der Hochschullehre
Ein Kollege berichtete kürzlich von einem ,,schrecklichen“ Erlebnis: ,,Als ich den Hörsaal betrat, sah ich statt eines Beamers nur Drähte aus der Decke ragen. In der Not musste ich die ganze Vorlesung an der Tafel halten.“ Dieses Schicksal ist kein Einzelfall. Der Alptraum vom kaputten Beamer zeigt eine bemerkenswerte Entwicklung: Die Vorlesung mit Powerpoint (PPT) ist auf dem Vormarsch.
Meinung von Prof. Dr. André Thess, Professor für Thermodynamik und Magnetofluiddynamik an der Technischen Universität Ilmenau
Vorweg sei gesagt, dass hier kein Generalangriff auf elektronische Medien geführt werden soll. Zur Debatte stehen vielmehr Vorlesungen, bei denen PPT das vorherrschende oder sogar einzige Präsentationswerkzeug ist. Allmählich verdrängen sie den Tafelvortrag auch in Grundlagendisziplinen. Ist diese Entwicklung im Sinne der Studenten?
Befürworter sehen in der PPT-Vorlesung den Vorteil, dass sich die Präsentationskonserve beliebig oft und in gleichbleibender Qualität abspielen lässt, während ein Tafelbild stets aufs Neue in emsiger Handarbeit mit schwankendem Ergebnis entwickelt werden muss. Wären Vorbestimmtheit und Abspielbarkeit die entscheidenden Maßstäbe für die Überzeugungskraft einer Botschaft, so könnte der Intendant der Semperoper bei der Aufführung von Mozarts ,,Zauberflöte“ in Zukunft eine Tonkonserve einspielen lassen. Doch während Dozentinnen oder Dozenten als Konzerthörer ein solches Ansinnen empört zurückweisen würden, muten sie ihren Vorlesungshörern Tafelbildkonserven zu.
Nicht selten präsentieren sie bis zu fünfzig Folien pro Vorlesung. Bei weniger als zwei Minuten pro Folie ist es den Studierenden schlichtweg unmöglich, die auf den Folien abgebildeten Sachverhalte umfassend zu verstehen. Gestaltungselemente wie Diagramme, bunte Bilder und Animationen oder Formeln brechen oft in einer solchen Vielzahl über die Studenten herein, dass ihnen keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Das Ergebnis ist eine Reizüberflutung, wie sie ohne elektronische Medien undenkbar wäre.
An die Wand eines Universitätsgebäudes hat einmal ein Unbekannter den Spruch gesprüht ,,Lehren heißt nicht einen Eimer füllen, sondern ein Feuer entfachen.“ Es ist schwer zu glauben, dass man zur Entfachung eines Feuers dutzende von PPT-Folien benötigt. In Anbetracht dieser Lage erscheint es angebracht, sich der Vorzüge eines alten Präsentationswerkzeugs zu erinnern. Gemeint ist die Wandtafel. Es gibt mindestens vier Gründe, diesem vom Aussterben bedrohten Medium wieder zu wachsender Bedeutung zu verhelfen.
Erstens: Es gibt nichts Besseres als eine Wandtafel, um Vorlesungen zu entschleunigen. Der Dozent, der an der Tafel arbeitet, muss alles Wichtige mühsam mit der Hand anschreiben. Ähnlich wie die „slow-food“-Bewegung in der Gastronomie als Gegenentwurf zum hektischen Schnellrestaurant könnte die Wandtafel zu einem Identifikationssymbol für „slow brain food“ in der universitären Lehre werden.
Zweitens: Die Arbeit an der Wandtafel zwingt den Dozenten, sich auf das Wesentliche zu beschränken – zum Beispiel durch Verwendung von Handskizzen statt barocker PPT-Malerei. Es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass sich jede der großen technischen Erfindungen der Menschheit, ob es sich um das Rad, die Dampfmaschine oder die Glühbirne handelt, als Handskizze an einer Tafel veranschaulichen lassen sollte.
Drittens: Das Skizzieren eines Sachverhalts in zeitraubenden Einzelschritten an der Wandtafel eignet sich hervorragend, um verschiedene logische Ebenen eines wissenschaftlichen Konzepts oder eines technischen Systems erlebbar zu machen. So kann etwa ein Dozent der Thermodynamik ein Flugzeugtriebwerk an der Wandtafel gleichsam sezieren und nebenbei in Ruhe die Verknüpfung seiner eigenen Wissenschaftsdisziplin zu den Nachbardisziplinen herstellen. Selbstverständlich erlaubt auch die PPT-Präsentation eine hierarchische Darstellung komplexer Systeme. Doch die Möglichkeit, Elemente einfach „einfliegen“ zu lassen, verleitet häufig zu einer zu hohen Geschwindigkeit.
Viertens: Der Dozent, der an der Tafel arbeitet, erbringt einen höheren körperlichen Einsatz als bei Powerpoint, und das nicht nur durch den sorgfältigen Tafelanschrieb. Wandtafeln wollen überdies abgewischt, umgeklappt, hochgefahren oder umgedreht werden. In ihrem Selbstverständnis sollten Hochschullehrer einem sich rastlos auf der Bühne bewegenden Künstler näher stehen als einem ans Rednerpult gefesselten Verbandsfunktionär oder Parteitagsredner.
Angesichts dieser Vorteile dürften die Nachteile der Wandtafel, wie das traumatisierende Gefühl, wenn der Fingernagel an der Wandtafel kratzt, müffelnde Tafelschwämme oder Kreidestaub auf schwarzen Anzughosen, kaum ins Gewicht fallen.
André Thess
(Dieser Beitrag beruht auf einer längeren Fassung, die zuerst in der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ erschienen ist.)
Quelle: Physik Journal, Dezember 2010, S. 3