Röntgenthermometer für extreme Bedingungen
Neues Verfahren ermöglicht zuvor kaum durchführbare Experimente mit warmer, dichter Materie.
Warme dichte Materie (WDM) ist tausende Grad heiß und steht unter dem Druck tausender Erdatmosphären. Im Weltall ist sie vielerorts anzutreffen, auf der Erde verspricht man sich nutzbringende Anwendungen von ihr. Sie zu erforschen ist allerdings eine Herausforderung. Nicht einmal die Temperatur eines Materials ist unter WDM-Bedingungen einfach zu bestimmen. Ein Forscherteam unter Leitung von Tobias Dornheim vom Center for Advanced Systems Understanding (CASUS) am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf zeigt einen mathematischen Lösungsweg auf, mit dem sich die Temperatur solcher Materie präzise ermitteln lässt. Das Verfahren kann ohne weiteres an den weltweiten Experimentieranlagen der Materieforschung zum Einsatz kommen und den Erkenntnisgewinn beschleunigen.
Die Beschäftigung mit warmer dichter Materie dient in erster Linie dem Verständnis von Planeten und Sternen. Dass die Fachwelt versucht, solche Materiezustände mit aufwändigen Experimenten auf der Erde nachzustellen, hat aber auch noch andere Gründe: Neuartige Werkstoffe mit faszinierenden Eigenschaften sind ebenso denkbar wie bedeutende Fortschritte für die Trägheitsfusion, einer vielversprechenden Methode der Energiegewinnung. Im Labor kann warme dichte Materie dank kräftiger Laserblitze aktuell für Bruchteile von Sekunden erzeugt werden. Die Auswertung dieser Experimente ist aufwändig und behindert das Verständnis, was warme dichte Materie ist und wie sie sich verhält.
Als wichtige Messmethodik hat sich mittlerweile die Röntgenstreuung etabliert. Hierbei wird zusätzlich zu jenem Laser, der die warme dichte Materie erzeugt, ein Röntgenlaser auf die Probe gerichtet. Je nachdem, wie dessen Licht beim Durchgang durch die Probe gestreut wird, können Rückschlüsse auf die Eigenschaften des Materials gezogen werden. Die Auswertung dieser Röntgenthomsonstreuung erfolgt entweder über Simulationen oder über Modelle. Beide Varianten sind allerdings nicht sonderlich genau, da man immer gewisse Annahmen treffen muss, um an Ergebnisse zu kommen. Außerdem sind besonders die Simulationen ressourcenintensiv. Für sie benötigt die Forschung die besten Höchstleistungsrechner der Welt. Dadurch ist die Auswertung der Experimente ein Flaschenhals für den wissenschaftlichen Fortschritt.
„Wir zeigen mit unserer Arbeit, dass die Auswertung der Streuungsdaten ohne Simulationen und ohne Modelle mit all ihren Näherungen und Annahmen möglich ist“, sagt Tobias Dornheim, Leiter der Nachwuchsgruppe „Frontiers of Computational Quantum Many-Body Theory“. „Wir reproduzieren keine Experimente, sondern extrahieren die Temperatur direkt aus der Messung. Damit reduziert sich der Aufwand, Experimente mit warmer dichter Materie auszuwerten, um ein Vielfaches. Unsere Methode ist zudem deutlich präziser als der Rückgriff auf Simulationen und Modelle. Die Interpretation der Ergebnisse gelingt einfach und unkompliziert.“
Dornheim und sein Team greifen bei ihrem Ansatz auf die Laplace-Transformation zurück. Anhand von drei Beispielen zeigen sie auf, dass sie mit ihrem Ansatz die Temperatur von warmer dichter Materie unverzerrt ermitteln können. Welche Materialien konkret untersucht werden beziehungsweise von welcher experimentellen Anlage die Streuungsdaten stammen, ist dabei zweitrangig. Die vorgeschlagene Diagnostik ist universell anwendbar und benötigt keine Höchstleistungsrechner. „Dieser neue Ansatz zeigt, dass man manchmal eine rechenintensive Aufgabe schneller und besser erledigen kann, indem man anders über das komplexe Problem nachdenkt“, sagt Michael Bussmann von CASUS.
„Wir sind zuversichtlich, dass unser Verfahren von Experimentalphysikern angenommen wird und ihnen bei der Auswertung ihrer Arbeit hilfreich ist“, ergänzt Dornheim. Beispielweise könnte die Fusionsforschung profitieren. Hier wird versucht, in Sternen stattfindende Prozesse auf der Erde nachzubilden. Bei der Trägheitsfusion wird Brennstoff aus Deuterium und Tritium extrem aufgeheizt und verdichtet, ein Zwischenzustand ist die warme dichte Materie. Mithilfe der Röntgenstreuung wird dieser Prozess genau überwacht.
Eine Meldung der National Ignition Facility des Lawrence Livermore National Laboratory verlieh dem Feld der Trägheitsfusion jüngst einen kräftigen Schub. So gelang erstmals eine Fusionszündung, bei der mehr Energie durch die Fusionsreaktion entstand, als durch die Laser eingetragen wurde. Maximilian Böhme forschte über den Jahreswechsel von 2018 zu 2019 sechs Monate an der NIF. Er trug maßgeblich zur Entwicklung des Ansatzes bei. „Auch bei den Fusionsexperimenten an der NIF wird die Temperatur mittels Röntgenstreuung gemessen. Und das Team dort kämpft mit genau denselben Unzulänglichkeiten verfügbarer Diagnostika. Eine schnelle und präzise Temperaturermittlung ist definitiv ein entscheidender Baustein, der die Fusionsenergieforschung einen Riesenschritt nach vorn bringen wird. Genau diesen Baustein liefern wir jetzt mit unserer Arbeit“, schätzt Böhme ein.
Darüber hinaus ist das neue Verfahren für Experimente der Astrophysik hilfreich, für die die Helmholtz International Beamline for Extreme Fields (HIBEF) am European XFEL genutzt wird. Einige dieser Versuche sollen dabei helfen, die vielen heute bekannten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems besser zu verstehen und zu prüfen, ob auf einem davon sogar Leben möglich sein könnte. Gemeinsam mit Tilo Döppner (LLNL), Thomas Preston (European XFEL) und Dominik Kraus (Universität Rostock und HZDR) wollen Dornheim und sein Team nun zeigen, dass ihre Methode Rückschlüsse auf weitere Eigenschaften warmer dichter Materie über die Temperatur hinaus erlaubt – und das ebenso unkompliziert und präzise.
HZDR / JOL