05.07.2016

Schwingen und erinnern

Funktionen des menschlichen Gehirns mit Memristoren nachgestellt.

Wie erfasst, verarbeitet und speichert das menschliche Gehirn den ständig einwirkenden Datenstrom? Wie bewältigt es kognitive Aufgaben, die eine komplexe Inter­aktion zwischen verschiedenen Hirn­arealen erfordern und die viel schneller arbeitende Hochleistungs­rechner überfordern? Warum kann das Gehirn dies alles mit einem extrem geringen Energie­aufwand bewältigen?

Abb.: Wie in einem neuronalen Netzwerk beginnen die verbundenen Oszillatoren miteinander zu kommunizieren und synchronisieren sich nach einer Weile, bis sie wie echte Neuronen alle im gleichen Takt schwingen. (Bild: C. Urban, CAU)

Diese beeindruckende Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns technisch nach­zuvollziehen und seine Arbeits­weise in künstlichen neuronalen Netzwerken umzusetzen, ist das Ziel eines Kieler Forschungs­teams um Hermann Kohlstedt, Leiter des Fachbereichs Nano­elektronik an der Technischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und Sprecher des von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft geförderten über­regionalen Verbund­forschungs­projekts „Memristive Bauelemente für neuronale Systeme“ (FOR 2093). Den Kieler Wissenschaftlern ist es nun gelungen, zwei grundlegende Arbeits­prinzipien des menschlichen Gehirns, Gedächtnis und Synchronisation, elektronisch nachzubilden.

Das menschliche Gehirn ist ein Meister der Energie­effizienz. Seine rund 100 Milliarden Neuronen kommen mit einer Leistung von nur rund zwanzig Watt aus. Um ähnlich komplexe Rechen­operationen durchzuführen, wie sie das Gehirn bewältigt, benötigen moderne Hoch­leistungs­rechner das Viel­tausendfache an Energie. Die Neuronen des Gehirns sind durch Synapsen miteinander verknüpft und bilden ein hoch­komplexes Netzwerk. Unter dem Begriff „Lernen“ im neurologischen Sinne versteht man, dass die synaptischen Verbindungen im Gehirn nicht statisch festgelegt sind. Stattdessen passen sie sich ständig auf Grund von Umwelt­einflüssen, zum Beispiel Sinnes­eindrücken, neu an. Damit wird eine lokale Speicherung neuer Gedächtnis­inhalte möglich, man spricht von der neurologischen Plastizität des Gehirns.

Neben dieser räumlichen Anpassungsfähigkeit neuronaler Verbindungen existiert ein weiterer wichtiger Baustein für die Informations­verarbeitung im Gehirn: die Synchronisation von Neuronen­verbänden. Elektrische Impulse, sogenannte Aktions­potenziale, bilden die Grund­einheit der Informations­verarbeitung im Gehirn. Diese Impulse übermitteln permanent Informationen zwischen den Neuronen, dabei überqueren und beeinflussen sie die synaptischen Verbindungen des Gehirns. „Im Falle von bewussten Sinnes­wahrnehmungen verändert sich das räumlich unregel­mäßige Auftreten von neuronalen Impulsen plötzlich und zeitlich begrenzt hin zu geordneten Strukturen“, sagt Thorsten Bartsch, Neurologe an der CAU und Mitglied in der Forschungs­gruppe. Die zuvor unabhängigen Impulse der Neuronen synchronisieren sich in diesem Fall selbst über weit entfernte Hirn­bereiche hinweg. Dieses synchronisierte „Feuern“ lässt sich auch am lebendigen Menschen mittels Elektro­enzephalo­graphie nachweisen. „Schon seit langem wird diskutiert, ob das menschliche Bewusst­sein eng mit dieser Synchronisation der neuronalen Impulse verknüpft ist. Möglicherweise liegt darin der Schlüssel zum besseren Verständnis der Gehirn­funktionen“, so Bartsch weiter.

Die Kieler Wissenschaftler haben nun diese beiden Prinzipien der Arbeitsweise des Gehirns, also die Speicherung von Gedächtnis­inhalten in den Synapsen und die Synchronität der neuronalen Impulse innerhalb eines elektronischen Schalt­kreises nach­gebildet. „Dabei haben wir neuartige elektronische Bauelemente verwendet, mit deren Hilfe sich Gedächtnis­prozesse nachbilden lassen“, erklärt Kohlstedt. Diese Bauelemente (Memristoren) zeichnen sich dadurch aus, dass ihr elektrischer Widerstand von der zuvor geflossenen Ladung abhängt. „Auf diesem Weg lassen sich analog zu den ‚Gedächtnis­elementen‘ in biologischen Netzwerken unterschiedliche Zustände abspeichern“, ergänzt Martin Ziegler, Wissenschaftler im Fachbereich Nano­elektronik und Teil­projekt­leiter in der Forschungs­gruppe.

In ihrer elektronischen Schaltung koppelten die Kieler Forschenden nun zwei Oszillatoren miteinander über Memristoren. Oszillatoren sind Schaltungen, die periodische Spannungs­impulse erzeugen – analog zum „Feuern“ der Neuronen im Gehirn. Anfangs verliefen ihre Impulse asynchron, die beiden Oszillatoren waren also zunächst entkoppelt. Dank der adaptiven „Gedächtnis­elemente“ synchronisierten sich ihre Schwingungen jedoch nach kurzer Zeit. Die Forscher konnten so eine elektrische Schaltung mit denselben grund­legenden Eigenschaften ausstatten, die auch ein biologisches neuronales Netzwerk kennzeichnen.

CAU / DE

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