Schwingende Atome schalten elektrische Polarisation von Kristallen
Zeitaufgelöstes Röntgenexperiment zeigt Verschiebung von Elektronen.
Ferroelektrische Kristalle besitzen eine makroskopische elektrische Polarisation, die durch die Überlagerung sehr vieler Dipole auf atomarer Skala hervorgerufen wird. Entscheidend ist dabei die räumliche Trennung von negativ geladenen Elektronen und positiv geladenen Atomkernen. Man erwartet eine Änderung der makroskopischen Polarisation, sobald die Atome in Bewegung versetzt werden. Der Zusammenhang zwischen atomarer Bewegung und Polarisation ist jedoch unbekannt. Ein zeitaufgelöstes Röntgenexperiment zeigt jetzt, dass atomare Schwingungen mit einer winzigen Auslenkung Elektronen über eine tausendfach größere Distanz zwischen Atomen verschieben und die makroskopische Polarisation auf einer Zeitskala von Pikosekunden umschalten.
Abb.: Kristallgitter des ferroelektrischen Ammoniumsulfats mit verkippten Ammonium-
Ferroelektrische Materialien sind von großer Bedeutung für Anwendungen in elektronischen Sensoren, Speichern und Schaltelementen. Für ihre Funktion ist eine kontrollierte und schnelle Veränderung der elektrischen Eigenschaften durch externe mechanische Kräfte oder elektrische Spannungen wichtig. Das erfordert ein Verständnis des Zusammenhangs zwischen der atomaren Struktur und den makroskopischen elektrischen Eigenschaften, einschließlich der physikalischen Mechanismen, die eine schnellstmögliche Dynamik der makroskopischen Polarisation bestimmen.
Wissenschaftler des Max-Born-Instituts in Berlin haben jetzt gezeigt, wie atomare Schwingungen die makroskopische elektrische Polarisation des prototypischen Ferroelektrikums Ammoniumsulfat auf der Zeitskala weniger Pikosekunden modulieren. Sie berichten über ein Röntgenexperiment im Ultrakurzzeitbereich, das die quantitative Aufzeichnung von Ladungsbewegungen über Distanzen im Bereich von Atomdurchmessern erlaubt. In den Messungen versetzt ein ultrakurzer optischer Anregeimpuls Atome des Materials, eines aus kleinen Kristalliten bestehenden Pulvers, in Schwingung. Ein zeitlich verzögerter harter Röntgenimpuls wird an der angeregten Probe gebeugt, um die momentane atomare Anordnung in Form eines Röntgenbeugungsmusters zu erfassen. Die Abfolge solcher Schnappschüsse ergibt einen Film der Ladungsdichtekarte, aus der die räumliche Verteilung der Elektronen und die atomaren Bewegungen für jeden Zeitpunkt bestimmt werden.
Die Elektronendichtekarten zeigen eine Elektronenbewegung über Längen von hundert Pikometern, mehr als tausend Mal größer als die Auslenkungen der Atome. Dieses Verhalten bestimmt die momentanen lokalen Dipole auf atomarer Skala. Es wird durch das komplexe Zusammenwirken lokaler elektrischer Felder und polarisierbarer Elektronenwolken der Atome verursacht. Mit einem neuartigen theoretischen Formalismus lässt sich nun aus den zeitabhängigen Ladungsverteilungen in der atomaren Welt die elektrische Polarisation in der makroskopischen Welt bestimmen. Die makroskopische Polarisation wird durch die atomaren Schwingungen stark moduliert und kehrt im Takt mit den Schwingungen sogar ihr Vorzeichen um. Die Modulationsfrequenz von dreihundert Gigahertz ist durch die atomare Schwingungsfrequenz bestimmt und entspricht einer Richtungsumkehr der Polarisation innerhalb von 1,5 Pikosekunden, viel schneller als in derzeit existierenden ferroelektrischen Bauelementen. An der Oberfläche eines Kristallits treten dabei elektrische Felder von ungefähr siebenhundert Millionen Volt pro Meter auf.
Diese Ergebnisse etablieren die zeitaufgelöste Ultrakurzzeit-
FV Berlin / RK