Selbstheilende Quasiteilchen
Simulation zeigen Zerfall und Neubildung identischer Quasiteilchen.
Nichts hält ewig, sagt der Volksmund. Die Gesetze der Physik bestätigen dies: Alle Prozesse auf unserem Planeten vergrößern die Entropie, also die molekulare Unordnung. Ein zerbrochenes Glas beispielsweise würde sich niemals von selbst wieder zusammenfügen. Was in der Alltagswelt undenkbar erscheint, ist auf mikroskopischer Ebene möglich, das haben nun Physiker der Technischen Universität München TUM und des Max-Planck Instituts für die Physik komplexer Systeme herausgefunden.
„Bisher ist man davon ausgegangen, dass Quasiteilchen in wechselwirkenden Quantensystemen nach einer gewissen Zeit zerfallen. Jetzt wissen wir, dass das Gegenteil der Fall ist: Starke Wechselwirkungen können den Zerfall sogar komplett stoppen“, sagt Frank Pollmann, Professor für Theoretische Festkörperphysik. Ein Beispiel für solche Quasiteilchen sind kollektive Gitterschwingungen in Kristallen, die Phononen. Den Begriff des Quasiteilchens prägte der Physiker und Nobelpreisträger Lew Dawidowitsch Landau. Er beschrieb damit kollektive Zustände von vielen Teilchen, beziehungsweise deren Wechselwirkungen durch elektrische oder magnetische Kräfte. Durch diese Interaktion verhalten sich mehrere Teilchen wie ein einzelnes.
„Welche Prozesse das Schicksal dieser Quasiteilchen in wechselwirkenden Systemen im Detail beeinflussen, war bisher allerdings nicht bekannt“, sagt Pollmann. „Erst jetzt verfügen wir über numerische Methoden, mit denen wir komplexe Wechselwirkungen berechnen können und außerdem über Computer, die leistungsfähig genug sind, diese Gleichungen zu lösen.“ „Das Ergebnis der aufwendigen Simulation: Quasiteilchen zerfallen zwar, aus den Bruchstücken entstehen aber neue, identische Teilchengebilde“, sagt Ruben Verresen. „Wenn dieser Zerfall sehr schnell abläuft, kommt es nach einer gewissen Zeit zu einer Umkehrung der Reaktion, und die Trümmer finden sich wieder zusammen. Dieser Prozess kann sich unendlich wiederholen, es entsteht eine anhaltende Schwingung zwischen Zerfall und Wiedergeburt.“
Diese Schwingung ist physikalisch betrachtet eine Welle, die in Materie umgewandelt wird – was gemäß dem quantenmechanischen Welle-Teilchen-Dualismus möglich ist. Damit verstoßen die unsterblichen Quasiteilchen auch nicht gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Ihre Entropie bleibt konstant, der Zerfall ist gestoppt. Die Entdeckung erklärt auch Phänomene, die bisher rätselhaft waren. Experimentalphysiker hatten gemessen, dass die magnetische Verbindung Ba3CoSB2O9 erstaunlich stabil ist. Magnetische Quasiteilchen, die Magnonen, sind dafür verantwortlich. Andere Quasiteilchen, die Rotonen, sorgen dafür, dass Helium, an der Erdoberfläche ein Gas, am absoluten Nullpunkt eine Flüssigkeit wird, die widerstandslos fließen kann.
„Unsere Arbeit ist reine Grundlagenforschung“, betont Pollmann. Es sei aber gut möglich, dass die Ergebnisse eines Tages auch Anwendungen erlauben – beispielsweise den Bau langlebiger Datenspeicher für zukünftige Quantencomputer.
TUM / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
R. Verresen et al.: Avoided quasiparticle decay from strong quantum interactions, Nat. Phys., online 27. Mai 2019; DOI: 10.1038/s41567-019-0535-3 - Munich Center for Quantum Science and Technology, Technische Universität München