21.04.2006

Standardmodell bestätigt (UPDATE)

Forschern der Universität Karlsruhe gelang eine weitere Bestätigung des Standardmodells der Teilchenphysik.


Standardmodell der Physik experimentell bestätigt


Wenn Physiker vom "Standardmodell“ sprechen, meinen sie ihr Bild von der Welt der kleinsten Teilchen und der Kräfte zwischen ihnen. Es beschreibt unter anderem exotische Materie, die sich in Antimaterie und zurück verwandeln kann. Zu den Teilchen mit dieser Fähigkeit gehört das Bs-Meson. Forscher am Fermilab-Teilchenbeschleuniger nahe Chicago konnten das Standardmodell jetzt experimentell bestätigen, indem sie zum ersten Mal direkt und sehr präzise gemessen haben, wie oft pro Sekunde sich Bs-Mesonen umwandeln. Als einzige deutsche Hochschule war die Universität Karlsruhe maßgeblich an diesem Meilenstein der Teilchenphysik beteiligt. Ein 20-köpfiges Forscherteam um die Physikprofessoren Dr. Thomas Müller und Dr. Michael Feindt hat komplexe Software geliefert, die eine gezielte Auswertung der Rohdaten überhaupt erst ermöglicht hat. Das Team gehört zu der Kollaboration "Collider Detector at Fermilab“ (CDF), an der etwa 700 Physiker von 60 Institutionen aus aller Welt beteiligt sind.

Im Fermilab, dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Welt, werden Protonen und Antiprotonen bis beinahe zur Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und aufeinander geschossen. Die dabei neben vielen anderen Teilchen entstehenden Bs-Mesonen wandeln sich pro Sekunde 2,8 Billionen Mal in Anti-Bs-Mesonen um und zurück, also jede Sekunde etwa 500-mal öfter als Menschen auf der Erde leben. "Dieser Wert liegt im Bereich, den das Standardmodell vorhersagt“, sagt Müller. Bs-Mesonen existieren im heutigen Kosmos nicht mehr, waren aber im jungen Universum kurz nach dem Urknall vorhanden. Physiker können sie nur in großen Teilchenbeschleunigern untersuchen. Sie wollen so nicht nur Erkenntnisse über die Eigenschaften der Elementarteilchen, sondern auch über die Entwicklung des frühen Universums gewinnen.

"Seit 1986 warten wir auf diese Messung“, sagt Müller. Es sei einer der seltenen Durchbrüche in der Elementarteilchenphysik. Dabei haben viele der Physiker ein ganz anderes Ergebnis erhofft. Müller: "Wir wissen, dass das Standardmodell unvollständig sein muss.“ Unter extremen Bedingungen, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht haben, sei es nicht gültig. Das Standardmodell müsse der Grenzfall einer allgemeineren Theorie sein. Müller vergleicht dieses Verhältnis mit dem zwischen der Mechanik Isaac Newtons und Einsteins Relativitätstheorie. Erstere beschreibt die Bewegung von Dingen in unserer Alltagswelt bis hin zur Planetenbewegung. Für Geschwindigkeiten nahe der des Lichtes verliert sie jedoch ihre Gültigkeit und muss durch die allgemeiner gültige Relativitätstheorie ersetzt werden. Das Standardmodell hat weitere Unzulänglichkeiten: "Es kann nicht erklären, warum im Universum nur Materie und keine Antimaterie beobachtet wird“, sagt Feindt, der maßgeblich an der Entwicklung der Karlsruher Spezialsoftware mitwirkte. Jede Proton-Antiproton-Kollision kann mit einem "Mini-Urknall“ verglichen werden. Es entsteht eine hohe Zahl neuer Teilchen, die mit dem 700 Tonnen schweren CDF-Detektor nachgewiesen werden. Indem sie die Kollisionen mit Präzisionsmessungen beobachten, hoffen Physiker, über die Grenzen des Standardmodells hinauszublicken, um ein tieferes Verständnis der Natur der kleinsten Teilchen und der Evolution des Universums zu gewinnen.

Seit 1995 arbeitete das Karlsruher Team an Software, die aus dem Gewirr elektronischer Teilchenspuren im CDF-Detektor rekonstruieren kann, ob ein Bs-Meson bei seiner Entstehung Teilchen oder Antiteilchen war. Dieses so genannte Tagging basiert auf komplexen statistischen Verfahren. Zusammen mit der Lebensdauer des Bs-Mesons, die im Bereich einer Millionstel Sekunde liegt, und der relativ einfach zu gewinnenden Information, ob es bei seinem Zerfall Teilchen oder Antiteilchen war, kann auf die Anzahl der Umwandlungen pro Sekunde geschlossen werden. Zum ersten Mal kam für das Tagging unter anderem das in Karlsruhe entwickelte neuronale Netzwerk "NeuroBayes“ zum Einsatz. Neuronale Netze können versteckte Zusammenhänge in umfangreichen Datenmengen aufspüren. NeuroBayes wird auch in der Wirtschaft eingesetzt, zum Beispiel zur Analyse von Versicherungsdaten. Maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat außerdem die Software "Same-Side-Kaon Tagging“ der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forschenden Emmy-Noether-Stipendiatin Stephanie Menzemer, die an der Universität Karlsruhe promovierte.

Zwischen Februar 2002 und Januar 2006 kollidierten im Fermilab hunderte von Billionen Protonen mit Antiprotonen. Die Daten wurden auf großen Computer-Netzwerken und zum Teil auf dem World-Wide-Grid, einem weltweiten Zusammenschluss von Rechenzentren, ausgewertet. Die Physiker konnten so den Lebensweg von etwa 3700 Bs-Mesonen vollständig rekonstruieren. Die Rekonstruktion von weiteren etwa 53 000 Bs-Mesonen gelang wegen der Beteiligung von nicht nachweisbaren Neutrinos an der Reaktion teilweise. Diese Datenbasis bildet ein starkes statistisches Fundament für die Auswertung. Die Wahrscheinlichkeit, dass die gemessene Umwandlungsrate von einer statistischen Fluktuation herrührt, beträgt nur 0,5 Prozent. Um jedoch jeden Zweifel auszuschließen, werden weitere Daten aufgenommen und die Rekonstruktionsmethoden weiter entwickelt.

Quelle: Uni Karlsruhe

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