Stromversorgung: Instabile Netze verstehen
Vorhersageinstrument für das Braess-Paradoxon bei der Erweiterung von Stromnetzen entwickelt.
Die nachhaltige Transformation des Energiesystems erfordert einen Ausbau der Netze, um regenerative Quellen einzubinden und Strom über weite Strecken zu transportieren. Dieser Ausbau verlangt große Investitionen und zielt darauf ab, die Netze stabiler zu machen. Durch das Aufrüsten bestehender oder das Hinzufügen neuer Leitungen kann es aber auch geschehen, dass das Netz nicht stabiler, sondern instabiler wird und es zu Stromausfällen kommt. „Wir sprechen dann vom Braess-Paradoxon. Dieses besagt, dass eine zusätzliche Option anstatt zur Verbesserung zur Verschlechterung der Gesamtsituation führt“, sagt Benjamin Schäfer vom Karlsruher Institut für Technologie.
Benannt ist das Phänomen nach dem deutschen Mathematiker Dietrich Braess, der es erstmals für Straßenverkehrsnetze erörterte: Unter bestimmten Bedingungen kann der Bau einer neuen Straße die Fahrzeit für alle Verkehrsteilnehmer verlängern. Dieser Effekt wurde in Verkehrssystemen beobachtet und für biologische Systeme diskutiert, für Stromnetze aber bisher nur theoretisch prognostiziert und in sehr kleinem Maßstab dargestellt.
Das Phänomen hat ein internationales Forscherteam um Schäfer jetzt erstmals im Detail für Stromnetze simuliert sowie in größerem Maßstab demonstriert. Die Wissenschaftler nahmen eine Simulation des Stromnetzes in Deutschland einschließlich geplanter Verstärkungen und Ausbauten vor. Bei einem Versuchsaufbau im Labor, der das Braess-Paradoxon in einem Wechselstromnetz zeigt, beobachteten die Forscher das Phänomen in der Simulation sowie im Experiment. Wesentlich dabei war eine Betrachtung von Kreisflüssen. Denn diese sind entscheidend, um das Braess-Paradoxon zu verstehen: Eine Leitung wird verbessert, indem beispielsweise der Widerstand verringert wird, und kann daraufhin mehr Strom transportieren.
„Aufgrund von Erhaltungssätzen gibt es dadurch effektiv einen neuen Kreisfluss, und in manchen Leitungen fließt mehr, in anderen weniger Strom“, erläutert Schäfer. „Zum Problem wird dies, wenn die schon am meisten belastete Leitung nun noch mehr Strom führen muss, die Leitung damit überlastet wird und stillgelegt werden muss. Dadurch wird das Netz instabiler und bricht schlimmstenfalls zusammen.“
Die meisten Stromnetze verfügen über ausreichende Reservekapazitäten, um dem Braess-Paradoxon standzuhalten. Beim Bau neuer Leitungen und während des Betriebs prüfen die Netzbetreiber alle möglichen Szenarien. Wenn allerdings kurzfristig Entscheidungen zu treffen sind, beispielsweise um Leitungen stillzulegen oder Kraftwerksleistungen zu verschieben, genügt die Zeit nicht immer, um alle Szenarien durchzurechnen. „Dann bedarf es eines intuitiven Verständnisses von Kreisflüssen, um einschätzen zu können, wann das Braess-Paradoxons auftritt und so schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagt Schäfer.
Das Team hat deshalb ein Vorhersageinstrument entwickelt, das Netzbetreiber dabei unterstützt, das Braess-Paradoxon bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Ergebnisse der Forschung ermöglichten nun das theoretische Verständnis des Braess-Paradoxons und lieferten praktische Leitlinien, um Netzerweiterungen sinnvoll zu planen und die Stabilität des Netzes zu unterstützen, so Schäfer.
KIT / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
B. Schäfer et al.: Understanding Braess' Paradox in power grids, Nat. Commun. 13, 5396 (2022); DOI: 10.1038/s41467-022-32917-6 - DRACOS – Datengetriebene Analyse komplexer Systeme (B. Schäfer), Institut für Automation und angewandte Informatik, Karlsruher Institut für Technologie