Turm der Farben
Unsere visuelle Wahrnehmung besitzt einen „physiologischen Weißabgleich“ mit interessanten Effekten, wie in der neuen „Physik in unserer Zeit“ erklärt.
Unsere Augen täuschen uns mehrfach, durchaus als Hilfestellung. So erkennen wir Gegenstände in ihrer „wahren“ Größe unabhängig davon, wie weit sie entfernt sind. Eine weitere Täuschung ist die sogenannte chromatische Adaption: Unser visuelles System tendiert dazu, die dominante Farbe der Beleuchtung in einer bestimmten Situation als weiß wahrzunehmen. Das hat zum Beispiel die praktische Konsequenz, dass wir eine im Schatten liegende „weiße“ Wand eines Gebäudes auch als weiß wahrnehmen, obwohl sie das blaue Licht des Himmels reflektiert. Dies sorgt dann für den enttäuschenden „Blaustich“ auf Urlaubsfotos von weißgekalkten Häusern im Süden.
Heutige Digitalkameras tragen in Standardsituationen derartigen Farbadaptionen des Auges Rechnung, durch einen entsprechenden Weißabgleich. Unter dem Blätterdach von Bäumen aufgenommenen Fotos ist dann das grüne Umgebungslicht ebenso wenig anzusehen wie das blaue Himmelslicht von beschatteten weißen Wänden.
Gelegentlich versagt aber ein derartiger physiologischer oder technischer Weißabgleich. Sind mehrere Beleuchtungsfarben gleichzeitig und in vergleichbarem Ausmaß im Spiel, können sie das Täuschungsmanöver der chromatischen Adaption aushebeln. Auf natürliche Weise zeigt dies der Besuch eines alten Aussichtsturmes, der mitten in einem Laubwald steht (siehe Abbildung). Beim Abstieg von seiner Aussichtsplattform konnte man gleichzeitig Licht sehen, das durch drei verschiedene Öffnungen auf die graue Wand und die Stufen der Wendeltreppe traf. Durch das höchste Fenster fiel blaues Himmelslicht, das mittlere lag im grünen Licht des Blätterdachs, das untere ließ das weitgehend weiße Mischlicht der freien Umgebung ins Innere des Treppenhauses hinein.
So konnte man alle drei Farben auf einmal in den Blick nehmen. Die Augen hatten keine Chance, grün und blau gleichzeitig als weiß erscheinen zu lassen. Sie wurden hier ausgetrickst, indem sie daran gehindert wurden, uns wie so oft auszutricksen.
Hans Joachim Schlichting, Münster / DE