19.12.2022

Verwobene Plasmastrukturen

Dynamische Plasmafelder in der mittleren Sonnenkorona geben wichtige Hinweise auf Ursprung des Sonnenwindes.

Mit Hilfe von Messdaten der amerikanischen Wettersatelliten GOES hat ein Forscherteam unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnen­system­forschung (MPS) einen wichtigen Schritt getan, der Sonne eines ihrer hartnäckigsten Geheimnisse zu entlocken: Wie gelingt es unserem Stern, den Sonnenwind ins All zu schleudern? Die Messdaten erlauben einen einzigartigen Blick auf eine Schlüssel­region in der Sonnen­korona, zu der es bisher kaum Zugang gab. Dort hat das Team erstmals ein dynamisches Netz langgezogener, verwobener Plasma­strukturen sichtbar gemacht. Zusammen mit Daten anderer Raumsonden und umfangreichen Computer­simulationen zeigt sich ein klares Bild: Dort, wo die langen Fäden des koronalen Netzes wechselwirken, entlädt sich magnetische Energie – und Teilchen entweichen ins All. Zum Team gehörten auch Forscher des Southwest Research Institute, Boulder, der Predictive Science Inc., San Diego, und des Goddard Space Flight Center der NASA, Greenbelt, alle in den USA.

 

Abb.: Computer­simulation der Magnetfeld­architektur in der mittleren Korona...
Abb.: Computer­simulation der Magnetfeld­architektur in der mittleren Korona am 17. August 2018 (Bild: Chitta et al. / Nat. Astron.)

Die Wettersatelliten GOES (Geostationary Operational Environmental Satellites) der Wetter- und Ozeanographiebehörde (NOAA) der USA haben traditionell anderes als die Sonne im Sinn. Seit 1974 kreist das Satelliten­system in einer Höhe von etwa 36.000 Kilometern um unseren Planeten und liefert ununterbrochen erdbezogene Daten etwa zur Wetter- und Sturmvorhersage. Im Lauf der Jahre wurde die ursprüngliche Konfiguration um neuere Satelliten erweitert. Die drei jüngsten Mitglieder der Satelliten­familie, die derzeit in Betrieb sind, sind zusätzlich mit Instrumenten ausgestattet, die zur Vorhersage des Weltraum­wetters auf die Sonne schauen. Sie können die ultraviolette Strahlung aus der Korona unseres Sterns abbilden.

Eine besondere Messkampagne fand im August und September 2018 statt. Ihr Ziel war es, die ausgedehnte Sonnenkorona abzubilden. Mehr als einen Monat lang schaute das GOES-Sonnen­instrument Solar Ultraviolet Imager (SUVI) nicht nur so wie sonst direkt auf die Sonne, sondern fing auch Aufnahmen ein, die seitlich versetzt waren. „Wir hatten die seltene Gelegenheit, das Instrument auf ungewöhnliche Weise einzusetzen und so eine Region zu beobachten, die noch nicht wirklich erforscht wurde“, sagt Dan Seaton vom Southwest Research Institute, der während der Beobachtungskampagne als leitender Wissenschaftler für SUVI tätig war. „"Wir wussten nicht einmal, ob es funktionieren würde, aber wir wussten, dass wir wichtige Entdeckungen machen würden, wenn es funktioniert.“

Durch Zusammensetzen der Bilder aus den verschiedenen Blickwinkeln ließ sich das Sichtfeld des Instrumentes deutlich vergrößern und so erstmals die komplette mittlere Korona, eine Schicht der Sonnenatmosphäre, die 350.000 Kilometer (also etwa einen halben Sonnenradius) oberhalb der sichtbaren Sonnenoberfläche beginnt, im ultravioletten Licht abbilden.

Andere Raumsonden, welche die Sonne untersuchen und Daten aus der Korona sammeln, wie die NASA-Sonde Solar Dynamics Observatory (SDO) oder das Solar and Heliospheric Observatory (SOHO) von NASA und ESA, blicken in tiefer- oder höherliegende Schichten. „In der mittleren Korona hatte die Sonnenforschung bisher eine Art blinden Fleck. Die GOES-Daten sorgen hier für eine deutliche Verbesserung“, so Pradeep Chitta vom MPS, Erstautor der neuen Studie. In der mittleren Korona vermuten Forscher Prozesse, die den Sonnenwind antreiben und modulieren.

Der Sonnenwind ist eines der raumgreifendsten Merkmale unseres Sterns. Der Strom aus geladenen Teilchen, den die Sonne ins All schleudert, strömt bis an den Rand unseres Sonnensystems und erzeugt so die Heliosphäre, eine Blase dünnen Plasmas, das den Einflussbereich der Sonne markiert. Je nach Geschwindigkeit wird der Sonnenwind in eine schnelle und langsame Komponente unterteilt. Der schnelle Sonnenwind, der Geschwindigkeiten von mehr als 500 Kilometern pro Sekunde erreicht, stammt aus dem Inneren der koronalen Löcher. Das sind Regionen, die in der ultravioletten Strahlung aus der Korona dunkel erscheinen. Wo der langsame Sonnenwind seinen Ursprung nimmt, ist unklarer. Doch selbst diese langsameren Teilchen rasen mit Überschallgeschwindigkeiten von 300 bis 500 Kilometern pro Sekunde durchs All.

Diese langsame Komponente des Sonnenwindes wirft noch immer viele Fragen auf. Mehr als eine Million Grad heißes Plasma aus der Korona muss der Sonne entkommen, um den langsamen Sonnenwind zu bilden. Welcher Mechanismus ist hier am Werk? Zudem ist der langsame Sonnenwind nicht homogen, sondern offenbart zumindest teilweise eine strahlenartige Feinstruktur. Wo und wie entsteht sie? Diesen Fragen geht die neue Studie nach.

In den GOES-Daten zeigt sich in Äquatornähe eine Region, die das besondere Interesse der Forscher weckte: zwei koronale Löcher, von denen der Sonnenwind ungehindert fortströmt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Bereich hoher Magnet­feldstärke. Wechsel­wirkungen zwischen Systemen wie diesen gelten als mögliche Ausgangspunkte für den langsamen Sonnenwind. Oberhalb dieser Region durchziehen langgezogene, radial nach außen weisende Plasma­strukturen die mittlere Korona. Als koronales Netz bezeichnet das Autorenteam das Phänomen, das mit Hilfe der GOES-Satelliten jetzt erstmals direkt abgebildet wird. Das Netz ist ständig in Bewegung: Seine langgezogenen Strukturen kreuzen einander und gruppieren sich um.

Eine ähnliche Architektur des Sonnenplasmas kennen Forscher seit Langem aus der äußeren Korona. Aufnahmen aus diesem Bereich im sichtbaren Licht liefert seit Jahrzehnten der Koronograph LASCO (Large Angle and Spectrometric Coronagraph) an Bord der Raumsonde SOHO, die im vergangenen Jahr ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feierte. Die strahlenartigen Ströme in der äußeren Korona deuten Wissenschaftler als Feinstruktur des langsamen Sonnen­windes, der in der äußeren Korona seine Reise ins All beginnt. Wie die neue Studie nun eindrucksvoll zeigt, herrscht diese Feinstruktur bereits in der mittleren Korona vor.

Um das Phänomen besser zu verstehen, wertete das Forscherteam auch Daten weiterer Raumsonden aus: Der NASA-Sonnenspäher Solar Dynamics Observatory (SDO) ermöglichte den zeitgleichen Blick auf die Oberfläche der Sonne; die Raumsonde STEREO-A, die seit 2006 der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne vorauseilt, bot eine Perspektive von der Seite.

Mit modernen Berechnungs­methoden, die Beobachtungs­daten von der Sonne einbeziehen, lassen sich mit Hilfe von Super­computern realistische 3D-Modelle des schwer fassbaren Magnetfelds in der Sonnen­korona erstellen. In dieser Studie verwendete das Team ein modernes magneto­hydro­dynamisches (MHD) Modell, um das Magnetfeld und den Plasmazustand der Korona für diesen Zeitraum zu simulieren. „Dies hat uns geholfen, die faszinierende Dynamik, die wir in der mittleren Korona beobachtet haben, mit den vor­herrschenden Theorien über die Entstehung des Sonnenwindes zu verbinden“, sagt Cooper Downs von Predictive Science Inc., der die Computer­simulationen durchgeführt hat.

Wie die Rechnungen nahelegen, folgen die Plasma­strukturen des koronalen Netzes dem Verlauf der Magnetfeldlinien. „Wir gehen davon aus, dass sich die Architektur des Magnetfeldes auf den langsamen Sonnenwind überträgt und eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung der Sonnen­wind­teilchen ins All spielt“, so Chitta. Demnach fließt das heiße Sonnen­plasma in der mittleren Korona entlang der offenen Magnet­feld­linien des koronalen Netzes. Wo sich die Feldlinien kreuzen und wechselwirken, wird Energie frei.

Viel spricht dafür, dass die Forscher einem grundsätzlichen Phänomen auf der Spur sind. „In Phasen hoher Sonnen­aktivität treten in Äquator­nähe koronale Löcher häufig in unmittelbarer Nachbar­schaft zu Gebieten hoher Magnet­feldstärke auf“, so Chitta. „Das koronale Netz, das wir beobachtet haben, dürfte deshalb kein Einzelfall sein“, fügt er hinzu.

Weitere und detaillierte Erkenntnisse erhofft sich das Team von künftigen Sonnen­missionen. Einige von ihnen wie etwa die für 2024 geplante ESA-Mission Proba-3 sind mit Instrumenten ausgerüstet, die speziell die mittlere Korona ins Visier nehmen. Das MPS ist an der Verarbeitung und Auswertung der Daten beteiligt. Zusammen mit Messdaten von bereits aktiven Sonden wie der Parker Solar Probe der NASA und dem Solar Orbiter der ESA, die die Verbindungs­linie zwischen Sonne und Erde verlassen, wird so ein besseres Verständnis der drei­dimensionalen Struktur des koronalen Netzes möglich.

MPS / DE

 

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