Vielgestaltige Atomkerne
Kernspektroskopie zeigt überraschende Koexistenz verschiedener Formen bei leicht angeregten Cadmiumkernen auf.
Atomkerne können in sehr unterschiedlichen Formen vorliegen. Manche sind stärker diskusförmig, andere ähneln einem Rugby-Ei oder haben sogar die Form eines triaxialen Ellipsoids. Der Grund dafür liegt im gegenseitigen Spiel der Kräfte: Die anziehende starke und die abstoßende elektromagnetische Wechselwirkung zwischen den Protonen und Neutronen im Atomkern sowie kollektive Quanteneffekte zwischen diesen Teilchen sorgen für ein komplexes Zusammenspiel der Kräfte in den winzigen Atomkernen. Bislang gingen die Lehrbücher der Kernphysik davon aus, dass sich die Atomkerne zumindest bei abgeschlossenen Schalen oder in deren Nähe aber als kugelförmig präsentieren. Wie ein Forscherteam um Paul Garrett von der University of Guelph in Ontario, Kanada, nun zeigen konnte, gestaltet sich die Lage jedoch etwas komplizierter.
Die meisten Atomkerne liegen ein gutes Stück weg von den abgeschlossenen Schalen und zeigen eine gewisse Deformation. Dies zeigt sich unter anderem in hohen Werten der Quadrupolmomente, die sich bei Messungen des Rotationsspektrums bestimmen lassen. Atomkerne, die nahe an geschlossenen Schalen und ihren magischen Zahlen für Protonen und Neutronen liegen, sollten kugelförmig sein und entsprechende Schwingungen ausführen können. Das gilt auch für die nun untersuchten stabilen Isotope Cadmium-110 und Cadmium-112, deren Eigenschaften die Forscher mittels aufwändiger kernspektroskopischer Verfahren analysierten. Eigentlich hatten die Forscher bei Cadmium mit seiner Protonenzahl von 48, die nur knapp unterhalb der nächsten Schalengrenze von 50 liegt, das gewohnte Verhalten erwartet. Stattdessen zeigten sich in den Spektren verschiedene Banden, die auf die Koexistenz verschiedener Formen bei den leicht angeregten Cadmiumkernen hinwiesen.
Die Experimente fanden an der Isotope Separator and Accelerator Facility des kanadischen Teilchenbeschleunigerzentrum Triumf statt. Diese Anlage erlaubt es, Strahlen aus seltenen Isotopen zu erzeugen, die mit Hilfe eines Massenseparators und eines Strahltransportsystems zu den Experimenten gebracht werden. Um die gewünschten Cadmiumkerne zu herzustellen, erzeugten die Forscher zunächst einen aus Spallationsprodukten erzeugten Strahl aus Indium-110 und Indium-112 sowie aus Silber-112. Das Indium zerfiel über Beta-Plus-Zerfall oder Elektroneneinfang zu den gewünschten Kadium-Isotopen, das Silber über Beta-Minus-Zerfall. Die freiwerdenden Gammastrahlen untersuchten sie mit dem 8-Pi-Spektrometer.
Die frisch erzeugten Cadmium-Isotope gingen nach kurzer Zeit in den Grundzustand über und sandten dabei Gammastrahlung aus, anhand derer die Forscher diese Zustände charakterisieren konnten. Dabei verlangte insbesondere die Messung der seltenen Banden eine hohe Auslesegenauigkeit und gute Statistik. Die hochsensitiven Germaniumdetektoren und das Datennahmesystem des 8-Pi-Spektrometers sind speziell für eine hohe Rate von Betazerfällen optimiert, so dass die Forscher nach seltenen Übergängen suchen konnten – unter anderem per Koinzidenzschaltung, wenn bei einer Zerfallskaskade zwei Gammastrahlen innerhalb von rund 100 Nanosekunden emittiert wurden. „Eine der wichtigsten Gamma-Banden bei diesen Untersuchungen wird nur einmal bei ungefähr zehn Millionen Zerfällen der Eltern-Nuklide emittiert“, sagt Garrett. Deshalb mussten die Forscher bei einigen Experimenten bis zu rund einer Milliarde Zerfälle analysieren. Eine solche Präzision beim Nachweis war bisher zwar schon bei anderen Analysen erreicht worden, allerdings mussten die Forscher bei diesen Experimenten über hundert Ausgangszustände berücksichtigen, von denen eine entsprechende Vielzahl verschiedener Zerfallskanäle herrührt.
Wie sich beim Vergleich der Messungen mit Modellierungsmethoden herausstellte, machten die Cadmiumkerne bei den niedrigen Anregungen wohl keine sphärischen Schwingungen, sondern zeigten ellipsoide Rotationen, die auf die Koexistenz unterschiedlicher Formen hinwiesen – trotz der Nähe zur abgeschlossenen Protonenschale. Nach den Berechnungen könnten aber durchaus vier verschiedene ellipsoide Formen bei den niedrigsten energetischen Zuständen vorliegen. Für den Grundzustand ließ sich eine solch ungewöhnliche Gestalt noch nicht nachweisen: Das erfordert noch sehr viel umfangreichere Messungen, die die Wissenschaftler in Zukunft angehen wollen und die die Zusammenarbeit von mehreren Laboratorien weltweit mit unterschiedlichen Fähigkeiten erfordern wird.
Die Ergebnisse werfen insbesondere die Frage auf, welche anderen Atomkerne ein solch eigenartiges Verhalten zeigen und ob die Standardtheorie der Kernschalen nicht modifiziert werden muss. Die geschlossene Schalen sind anscheinend doch nicht so geschlossen wie gedacht. Vielmehr könnten Teilchen aus solchen Schalen Korrelationen mit anderen Teilchen eingehen und dadurch ein komplexes, rückgekoppeltes System erzeugen. Dabei bilden sich etwa Proton- oder Neutronpaare. Hinzu kommen Korrelationen zwischen Neutronen und Protonen über das Quadrupolmoment der starken Kernkraft und eventuell auch solche, die aus Alpha-Teilchen bestehen. Das einfache Schalenmodell dürfte demzufolge nur ein eingeschränktes Erklärungspotenzial aufweisen.
Dirk Eidemüller
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
P. E. Garrett et al.: Multiple Shape Coexistence in 110,112Cd, Phys. Rev. Lett. 123, 142502 (2019); DOI: 10.1103/PhysRevLett.123.142502 - Nuclear Physics (P. E. Garrett), University of Guelph
- Triumf Isotope Separator and Accelerator (ISAC), Vancouver
Weitere Beiträge
- K. L. Green et al.: Degeneracy at 1871 keV in 112Cd and implications for neutrinoless double electron capture, Phys. Rev. C 80, 032502(R); DOI: 10.1103/PhysRevC.80.032502
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D. Eidemüller: Protonen und Neutronen im Paartanz, pro-physik.de, 21. Februar 2019
JOL