Warme und dichte Materie besser berechnen
Neuronales Netzwerk erleichtert die Beschreibung des exotischen Materiezustands.
Der exotische Zustand der warmen dichten Materie stellt eine außergewöhnliche Herausforderung für Forscher dar, die ihn beschreiben wollen. Denn zum einen sind die vorherrschenden Dichten für die Anwendung von gängigen Modellen der Plasmaphysik zu hoch. Zum anderen greifen auch die Modelle für kondensierte Materie nicht mehr, da die beteiligten Energien bereits zu groß dafür sind. Der Modellierung solcher komplexen Systeme hat sich ein Team um Tobias Dornheim, Attila Cangi, Kushal Ramakrishna und Maximilian Böhme vom noch jungen Zentrum für Systemforschung Casus in Görlitz verschrieben. Zusammen mit Jan Vorberger vom Institut für Strahlenphysik am HZDR und Shigenori Tanaka von der Kobe University in Japan haben sie eine neue Methode erarbeitet, mit der sich die Eigenschaften von warmer dichter Materie effizienter und schneller berechnen lassen.
„Mit unserem Algorithmus lässt sich die Lokalfeldkorrektur sehr genau berechnen. Sie beschreibt, wie die Elektronen in warmer dichter Materie miteinander wechselwirken und ermöglicht damit einen Zugang zu deren Eigenschaften. Diese Berechnung kann bei zukünftigen Röntgenstreuexperimenten zur Modellierung und Interpretation der Ergebnisse eingesetzt werden, aber auch als Grundlage für andere Simulationsverfahren. Das heißt, unsere Methode hilft dabei, die Eigenschaften warmer dichter Materie, wie Temperatur und Dichte, aber auch ihre Leitfähigkeit für elektrischen Strom oder Wärme und viele weitere Charakteristika zu bestimmen“, erläutert Dornheim. „Die Motivation hinter der von uns entwickelten Methode ist, dass wir und viele Kollegen gerne wissen würden, wie sich Elektronen exakt unter dem Einfluss kleiner Störungen verhalten, etwa durch die Einwirkung eines Röntgenstrahls. Dazu kann man eine Formel herleiten, die aber so komplex ist, dass wir sie nicht mehr mit Stift und Zettel lösen können. Bisher hat man sich daher einer bestimmten Vereinfachung bedient, die aber bekanntermaßen einige wichtige physikalische Effekte nicht abbildet. Wir haben nun eine Korrektur eingeführt, die genau diesen Makel behebt.“
Für die Umsetzung wurden rechenintensive Simulationen über Millionen Prozessorstunden auf Großrechnern durchgeführt. Auf Grundlage dieser Daten und mit Hilfe analytischer Methoden aus der Statistik trainierten die Wissenschaftler ein neuronales Netzwerk, das die Wechselwirkung der Elektronen numerisch vorhersagen kann. Wie viel effizienter das neue Werkzeug ist, hängt von der jeweiligen Anwendung ab. „Generell können wir aber sagen, dass bisherige Verfahren bei hoher Genauigkeit tausende Prozessorstunden benötigen, wohingegen unsere Methode nur Sekunden beansprucht“, sagt Attila Cangi. „Somit kann man nun einen Laptop zur Simulation verwenden, wo zuvor ein Supercomputer notwendig war.“
Zwar ist der vorgestellte Code vorerst ausschließlich für die Elektronen in Metallen, zum Beispiel in Experimenten an Aluminium, anwendbar. Die Forscher arbeiten aber bereits an einem allgemein anwendbaren Code, der zukünftig bei verschiedensten Materialen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen Ergebnisse liefern soll. „Wir wollen unsere Erkenntnisse in einen neuen Code einfließen lassen. Dieser soll quelloffen sein, anders als der bisherige Code, der durch seine Lizenzierung keine einfachen Anpassungen durch neue theoretische Kenntnisse zulässt“, erläutert Doktorand Maximilian Böhme, der dafür mit dem britischen Plasmaphysiker Dave Chapman zusammenarbeitet.
Es gibt nur wenige Großlabore, an denen solche Röntgenexperimente zur Erforschung warmer dichter Materie möglich sind. Zu nennen sind hier der European XFEL bei Hamburg, aber auch die Linear Coherent Light Source (LCLS) am& Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) an der Stanford University, die National Ignition Facility (NIF) am Lawrence Livermore National Laboratory, die Z Machine an den Sandia National Laboratories oder der SPring-8 Angstrom Compact free electron LAser (SACLA) in Japan. „Wir stehen mit diesen Laboren in Kontakt und erwarten, aktiv an der Modellierung der Experimente teilnehmen zu können“, sagt Tobias Dornheim. Erste Experimente an der Helmholtz International Beamline for Extreme Fields (HIBEF) am European XFEL sind bereits in Vorbereitung.
HZDR / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
T. Dornheim et al.: Effective static approximation: A fast and reliable tool for warm-dense matter theory, Phys. Rev. Lett. 125, 235001 (2020); DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.235001 - Center for Advanced Systems Understanding CASUS, Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf HZDR, Görlitz