12.11.2020 • Teilchenphysik

Was verursacht das rätselhafte XENON1T-Signal?

Theoretiker suchen nach Erweiterungen des Standardmodells zur Erklärung des unerwartetes Detektor-Signals.

Im Juni hat die XENON-Kollaboration bekannt­gegeben, dass sie mit ihrem XENON1T-Detektor ein unerwartetes Signal gefunden hat. Die Kollaboration weist zwar darauf hin, dass es sich um ein bisher unerkanntes Hinter­grund­signal handeln könnte. Doch das Signal auch könnte ein erster Hinweis sein auf neue Physik jenseits des Standard­modells der Teilchen­physik. Diese Aussicht hat Theoretiker auf den Plan gerufen, welche diverse Erklärungen vorgeschlagen haben. Auch Theoretiker am MPI für Kernphysik suchen Erweiterungen des Standard­modells mit geeigneten Parametern, welche nicht nur das XENON1T-Signal erklären könnten, sondern auch mit allen Daten anderer Experimente und kosmo­logischen Beobachtungen kompatibel sind.

Abb.: Rate des elektro­nischen Rück­stoßes als Funktion der...
Abb.: Rate des elektro­nischen Rück­stoßes als Funktion der Rück­stoß­energie bei XENON1T im Modell von Andreas Bally, Sudip Jana und Andreas Trautner. (Bild: MPIK)

Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen im Universum, aber auch zu den am wenigsten verstandenen. Im Standard­modell sind Neutrinos masselos und inter­agieren nur über die schwache Wechsel­wirkung. Die Entdeckung von Neutrino-Oszil­la­tionen bedeutet aber, dass Neutrinos Masse haben und mischen. Um die Neutrino­massen zu erklären, muss das Standard­modell erweitert werden. In einigen dieser Erweiterungen bekommen Neutrinos durch Quanten­schleifen-Effekte auch elektro­magnetische Eigen­schaften. Deshalb ist die theoretische und experi­men­telle Erforschung der elektro­magnetischen Wechsel­wirkungen von Neutrinos ein leistungs­fähiges Werkzeug für die Suche nach der funda­mentalen Theorie hinter dem Mechanismus der Neutrino­massen-Erzeugung.

Der vom XENON1T-Experiment berichtete Überschuss an Elektronen-Rück­stoß­ereignissen könnte als Anzeichen für ein beträcht­liches übergangs­magnetisches Moment solarer Neutrinos inter­pretiert werden. Ein derart großer Wert führt aber normaler­weise zu unannehmbar großen Neutrino­massen. Kaladi Babu, Sudip Jana and Manfred Lindner zeigen, dass neue leptonische Symmetrien diesen Widerspruch zwischen magnetischem Moment und Masse lösen können. Sie diskutieren mehrere Modell­beispiele und zeigen, wie strikte astro­physi­kalische, aus der Stern­entwick­lung herrührende, Begrenzungen für das magnetische Moment der Neutrinos kein Problem sind. Außerdem sagen derartige Erweiterungen Signale neuer Physik vorher, die andere bevor­stehende Beschleuniger- und Nieder­energie-Experimente finden könnten.

Vedran Brdar, Admir Greljo, Joachim Kopp und Toby Opferkuch haben die Möglichkeit unter­sucht, das unerwartete Signal von XENON1T durch ein übergangs­magnetisches Moment zu erklären, welches durch die Wechsel­wirkung von Neutrinos mit noch unentdeckten, aber wohl­motivierten schweren Neutrinos erzeugt wird. Ein erfolg­versprechender Parameter­bereich wurde identi­fiziert und durch die bekannte Physik des frühen Universums und astro­physi­ka­lischer Objekte wie Supernovae weiter eingeschränkt. Die Forschen haben auch mögliche Folgerungen dieser Wechsel­wirkung auf andere erdgebundene Experimente wie Borexino untersucht und ein erfolg­reiches Hoch­energie-Modell vorgeschlagen, welches die erwähnte Wechsel­wirkung bei niedrigeren Energien realisiert. Dieser Ansatz würde daher seine Bedeutung behalten, selbst wenn sich das XENON1T-Signal als nicht mit neuer Physik verbunden heraus­stellen sollte.

Der Überschuss ließe sich auch als direkte Wechsel­wirkung von Dunkle-Materie-Teilchen und Neutrinos über Nicht-Standard-Wechsel­wirkungen, kurz NSIs, inter­pretieren. Derartige NSIs könnten als effektive Wechsel­wirkungen aus unter­schied­lichen Neue-Physik-Szenarien stammen. Es gibt zweierlei Inter­preta­tionen des Über­schusses: NSIs könnten proportional zur inversen Rück­stoß­energie verstärkt oder unter­drückt werden. Bei genauer Betrachtung dieser Heran­gehens­weise zeigte sich, dass nicht­standard Neutrino-Wechsel­wirkungen vektorieller Natur und Milli-Ladungen der Neutrinos aus der elektro­magnetischen Natur der Wechsel­wirkung die führenden Kandidaten für die Erklärung des XENON1T-Über­schusses sind. Eine weitere detail­lierte Studie hat das anhand von Daten von PandaX-II unter­mauert. PandaX-II ist ein ähnlicher Detektor, der ebenfalls einen Über­schuss bei nieder­energetischen Rück­stößen, jedoch mit geringerer Zählrate beobachtet hat. Das Team vermutet, dass der Über­schuss dem beobachteten Tritium-Unter­grund zuzuordnen ist.

Auch eine neue Kraft, die von einem neuen leichten Austausch­teilchen vermittelt wird, welches Neutrinos an Elektronen koppelt, könnte den Über­schuss erklären. Formuliert in einer voll­ständigen Theorie, die mit dem Standard­modell konsistent ist und nicht von anderen Labor­experimenten oder astro­no­mischen Daten ausge­schlossen wird, ergeben sich wichtige Konsequenzen: Die dominierende Wechsel­wirkung solarer Neutrinos mit den Elektronen der Xenon­atome wäre keine rein elastische Kollision. Statt­dessen würden die solaren Neutrinos mit den Elektronen reagieren und neue hypothetische „versteckte“ Neutrinos im XENON1T-Detektor erzeugen. Obwohl diese neuen Teilchen den Detektor unbemerkt verließen, würde sich das Energie­spektrum der Rück­stoß­elektronen charak­te­ristisch von dem anderer Erklärungen unter­scheiden. Deshalb könnte diese Erklärung schon mit den zusätzlich erwarteten Daten von XENONnT von anderen Erklärungen unter­schieden werden. Weil dieses Szenario auf einer voll­ständigen Theorie beruht, sagt diese Erklärung auch Signale neuer Physik voraus, die andere Experimente wie ATLAS und CMS am LHC oder ALPSII bei DESY entdecken könnten.

Eine weitere Möglichkeit den XENON1T-Überschuss zu erklären besteht darin, ihn mit dunkler Materie in Verbindung zu bringen. Die genaue Natur dieser nicht­leuchtenden Materie im Universum ist unbekannt, daher kann man ihren Einfluss unter­suchen, indem man ihre Eigen­schaften in allgemeinen Ausdrücken durch effektive Theorien charak­te­risiert. Eines dieser Modelle enthält auch die notwendigen Zutaten, um den XENON1T-Überschuss zu erklären. Der könnte in diesem Modell daher rühren, dass solare Neutrinos im Detektor streuen, vermittelt durch einen leichten neuen skalaren Mediator des dunklen Sektors. Dieses neue Teilchen würde nicht nur die beobachtete charak­te­ristische Energie­verteilung verursachen, sondern auch den Neutrinos ihre Masse geben, ihre Leichtheit erklären und wäre die Verbindung zur dunklen Materie in unserem Universum.

Alle diese Ansätze sind Teil einer andauernden lebhaften Diskussion über mögliche Erklärungen des beobachteten Signal-Überschusses. Die theoretischen Aktivitäten liefern auch nützliche Hinweise für experi­mentelle Such­strategien bei verschiedenen anderen Experimenten. Parallel laufen Bemühungen, alle denkbaren experi­mentellen Aspekte zu über­prüfen und Konsistenz­tests durch­zu­führen. Lindner ist zuver­sicht­lich, dass das Rätsel in naher Zukunft gelöst wird: „Inzwischen wurde der XENON1T-Detektor zu XENONnT aufgerüstet und wird gerade vorbereitet deutlich mehr Daten mit besserer Empfind­lich­keit aufzu­nehmen. Dies wird verschiedene detail­liertere Studien und Tests ermöglichen.“ Eine jährliche Modulation des Signals mit dem sich ändernden Abstand zur Sonne im Verlauf eines Jahres würde beispiels­weise Erklärungen unter­mauern, in denen neue Wechsel­wirkungen solarer Neutrinos oder ein Fluss hypo­the­tischer Axionen das Signal verursachen.

MPIK / RK

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