Was verursacht das rätselhafte XENON1T-Signal?
Theoretiker suchen nach Erweiterungen des Standardmodells zur Erklärung des unerwartetes Detektor-Signals.
Im Juni hat die XENON-Kollaboration bekanntgegeben, dass sie mit ihrem XENON1T-Detektor ein unerwartetes Signal gefunden hat. Die Kollaboration weist zwar darauf hin, dass es sich um ein bisher unerkanntes Hintergrundsignal handeln könnte. Doch das Signal auch könnte ein erster Hinweis sein auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik. Diese Aussicht hat Theoretiker auf den Plan gerufen, welche diverse Erklärungen vorgeschlagen haben. Auch Theoretiker am MPI für Kernphysik suchen Erweiterungen des Standardmodells mit geeigneten Parametern, welche nicht nur das XENON1T-Signal erklären könnten, sondern auch mit allen Daten anderer Experimente und kosmologischen Beobachtungen kompatibel sind.
Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen im Universum, aber auch zu den am wenigsten verstandenen. Im Standardmodell sind Neutrinos masselos und interagieren nur über die schwache Wechselwirkung. Die Entdeckung von Neutrino-Oszillationen bedeutet aber, dass Neutrinos Masse haben und mischen. Um die Neutrinomassen zu erklären, muss das Standardmodell erweitert werden. In einigen dieser Erweiterungen bekommen Neutrinos durch Quantenschleifen-Effekte auch elektromagnetische Eigenschaften. Deshalb ist die theoretische und experimentelle Erforschung der elektromagnetischen Wechselwirkungen von Neutrinos ein leistungsfähiges Werkzeug für die Suche nach der fundamentalen Theorie hinter dem Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung.
Der vom XENON1T-Experiment berichtete Überschuss an Elektronen-Rückstoßereignissen könnte als Anzeichen für ein beträchtliches übergangsmagnetisches Moment solarer Neutrinos interpretiert werden. Ein derart großer Wert führt aber normalerweise zu unannehmbar großen Neutrinomassen. Kaladi Babu, Sudip Jana and Manfred Lindner zeigen, dass neue leptonische Symmetrien diesen Widerspruch zwischen magnetischem Moment und Masse lösen können. Sie diskutieren mehrere Modellbeispiele und zeigen, wie strikte astrophysikalische, aus der Sternentwicklung herrührende, Begrenzungen für das magnetische Moment der Neutrinos kein Problem sind. Außerdem sagen derartige Erweiterungen Signale neuer Physik vorher, die andere bevorstehende Beschleuniger- und Niederenergie-Experimente finden könnten.
Vedran Brdar, Admir Greljo, Joachim Kopp und Toby Opferkuch haben die Möglichkeit untersucht, das unerwartete Signal von XENON1T durch ein übergangsmagnetisches Moment zu erklären, welches durch die Wechselwirkung von Neutrinos mit noch unentdeckten, aber wohlmotivierten schweren Neutrinos erzeugt wird. Ein erfolgversprechender Parameterbereich wurde identifiziert und durch die bekannte Physik des frühen Universums und astrophysikalischer Objekte wie Supernovae weiter eingeschränkt. Die Forschen haben auch mögliche Folgerungen dieser Wechselwirkung auf andere erdgebundene Experimente wie Borexino untersucht und ein erfolgreiches Hochenergie-Modell vorgeschlagen, welches die erwähnte Wechselwirkung bei niedrigeren Energien realisiert. Dieser Ansatz würde daher seine Bedeutung behalten, selbst wenn sich das XENON1T-Signal als nicht mit neuer Physik verbunden herausstellen sollte.
Der Überschuss ließe sich auch als direkte Wechselwirkung von Dunkle-Materie-Teilchen und Neutrinos über Nicht-Standard-Wechselwirkungen, kurz NSIs, interpretieren. Derartige NSIs könnten als effektive Wechselwirkungen aus unterschiedlichen Neue-Physik-Szenarien stammen. Es gibt zweierlei Interpretationen des Überschusses: NSIs könnten proportional zur inversen Rückstoßenergie verstärkt oder unterdrückt werden. Bei genauer Betrachtung dieser Herangehensweise zeigte sich, dass nichtstandard Neutrino-Wechselwirkungen vektorieller Natur und Milli-Ladungen der Neutrinos aus der elektromagnetischen Natur der Wechselwirkung die führenden Kandidaten für die Erklärung des XENON1T-Überschusses sind. Eine weitere detaillierte Studie hat das anhand von Daten von PandaX-II untermauert. PandaX-II ist ein ähnlicher Detektor, der ebenfalls einen Überschuss bei niederenergetischen Rückstößen, jedoch mit geringerer Zählrate beobachtet hat. Das Team vermutet, dass der Überschuss dem beobachteten Tritium-Untergrund zuzuordnen ist.
Auch eine neue Kraft, die von einem neuen leichten Austauschteilchen vermittelt wird, welches Neutrinos an Elektronen koppelt, könnte den Überschuss erklären. Formuliert in einer vollständigen Theorie, die mit dem Standardmodell konsistent ist und nicht von anderen Laborexperimenten oder astronomischen Daten ausgeschlossen wird, ergeben sich wichtige Konsequenzen: Die dominierende Wechselwirkung solarer Neutrinos mit den Elektronen der Xenonatome wäre keine rein elastische Kollision. Stattdessen würden die solaren Neutrinos mit den Elektronen reagieren und neue hypothetische „versteckte“ Neutrinos im XENON1T-Detektor erzeugen. Obwohl diese neuen Teilchen den Detektor unbemerkt verließen, würde sich das Energiespektrum der Rückstoßelektronen charakteristisch von dem anderer Erklärungen unterscheiden. Deshalb könnte diese Erklärung schon mit den zusätzlich erwarteten Daten von XENONnT von anderen Erklärungen unterschieden werden. Weil dieses Szenario auf einer vollständigen Theorie beruht, sagt diese Erklärung auch Signale neuer Physik voraus, die andere Experimente wie ATLAS und CMS am LHC oder ALPSII bei DESY entdecken könnten.
Eine weitere Möglichkeit den XENON1T-Überschuss zu erklären besteht darin, ihn mit dunkler Materie in Verbindung zu bringen. Die genaue Natur dieser nichtleuchtenden Materie im Universum ist unbekannt, daher kann man ihren Einfluss untersuchen, indem man ihre Eigenschaften in allgemeinen Ausdrücken durch effektive Theorien charakterisiert. Eines dieser Modelle enthält auch die notwendigen Zutaten, um den XENON1T-Überschuss zu erklären. Der könnte in diesem Modell daher rühren, dass solare Neutrinos im Detektor streuen, vermittelt durch einen leichten neuen skalaren Mediator des dunklen Sektors. Dieses neue Teilchen würde nicht nur die beobachtete charakteristische Energieverteilung verursachen, sondern auch den Neutrinos ihre Masse geben, ihre Leichtheit erklären und wäre die Verbindung zur dunklen Materie in unserem Universum.
Alle diese Ansätze sind Teil einer andauernden lebhaften Diskussion über mögliche Erklärungen des beobachteten Signal-Überschusses. Die theoretischen Aktivitäten liefern auch nützliche Hinweise für experimentelle Suchstrategien bei verschiedenen anderen Experimenten. Parallel laufen Bemühungen, alle denkbaren experimentellen Aspekte zu überprüfen und Konsistenztests durchzuführen. Lindner ist zuversichtlich, dass das Rätsel in naher Zukunft gelöst wird: „Inzwischen wurde der XENON1T-Detektor zu XENONnT aufgerüstet und wird gerade vorbereitet deutlich mehr Daten mit besserer Empfindlichkeit aufzunehmen. Dies wird verschiedene detailliertere Studien und Tests ermöglichen.“ Eine jährliche Modulation des Signals mit dem sich ändernden Abstand zur Sonne im Verlauf eines Jahres würde beispielsweise Erklärungen untermauern, in denen neue Wechselwirkungen solarer Neutrinos oder ein Fluss hypothetischer Axionen das Signal verursachen.
MPIK / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichungen
K.S. Babu, S. Jana & M. Lindner: Large Neutrino Magnetic Moments in the Light of Recent Experiments, J. High Energ. Phys. 2020, 40 (2020); DOI: 10.1007/JHEP10(2020)040
V. Brdar et al.: The Neutrino Magnetic Moment Portal: Cosmology, Astrophysics, and Direct Detection; Preprint: arXiv:2007.15563 [hep-ph]
A. N. Khan: Can Nonstandard Neutrino Interactions explain the XENON1T spectral excess?, Phys. Lett. B 809, 135782 (2020); DOI: 10.1016/j.physletb.2020.135782
A. N. Khan: Constraints on General Light Mediators from PandaX-II Electron Recoil Data; Preprint: arXiv:2008.10279 [hep-ph]
A. Bally, S. Jana & A. Trautner: Neutrino Self-Interactions and XENON1T Electron Recoil Excess, Phys. Rev. Lett. 125, 161802 (2020); DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.161802
G. Arcadi et al.: EFT Interpretation of XENON1T Electron Recoil Excess: Neutrinos and Dark Matter, Preprint: arXiv:2007.08500 [hep-ph] - Teilchen- und Astroteichenphysik (M. Lindner), Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg
Weitere Beiträge
- M. Lindner, H.-C. Schultz-Coulon und F.-K. Thielemann, Suche nach der Dunklen Materie (Physik Journal, November 2019, S. 32) PDF
- M. Pfalz, XENON1T: Einweihung unter Tage (Physik Journal, Dezember 2015, S.6) PDF