Weiche Kristalle
Ein Forscherteam aus Wien entdeckt neuartige Strukturen aus winzigen Teilchen, die in Flüssigkeiten schweben.
Was haben Blut, Tinte und Mehlsuppe gemeinsam? Sie alle sind Flüssigkeiten, in denen winzige Teilchen schweben - sogenannte „Kolloide“. In manchen dieser Flüssigkeiten finden sich die Teilchen zu Gruppen zusammen, die sich dann ganz von selbst regelmäßig anordnen, wie Atome in einem Kristall. Einer Forschungsgruppe der TU Wien und der Universität Wien gelang es nun, durch Computersimulationen erstaunliche Eigenschaften dieser kristallartigen Substanzen zu ergründen. Unter mechanischer Belastung kann sich die kristalline Ordnung in eine andere Struktur umwandeln oder sich komplett auflösen. Dadurch verändern sich die Fließeigenschaften. Die Wissenschaftler sehen ein breites technisches Anwendungsspektrum für diese Effekte.
Von links: ungeordnete Kolloide, kristalline Struktur und Teilchenstränge bei mechanischer Belastung
Lagern sich winzige Teilchen aneinander an, bezeichnet man sie als Cluster. Die Teilchen innerhalb eines Clusters können sich überlappen und durchdringen. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich diese Cluster nicht einfach an zufälligen Orten aufhalten, sondern ganz von selbst eine regelmäßige Struktur ausbilden – so genannte „weiche Kristalle“. Der Abstand von einem Cluster unter bestimmten äußeren Bedingungen zum nächsten ist immer gleich.
Mithilfe von Computersimulationen konnten die Forscher zeigen, wie sich die kristallartige Struktur verändert, wenn man eine Scherspannung anlegt – also die Flächen innerhalb der Flüssigkeit gegeneinander verschiebt. Zunächst beginnt die Kristallstruktur zu schmelzen – die Bindungen zwischen den Clustern werden gebrochen. Aus diesen „abgeschmolzenen“ Teilchenclustern bildet sich dann aber spontan eine neue Ordnung: Lange, gerade Teilchenstränge entstehen, die sauber parallel zueinander angeordnet sind.
Während sich diese Stränge bilden, wird die Substanz immer dünnflüssiger – ihre Zähigkeit (die Viskosität) nimmt ab. Das liegt daran, dass sich die parallelen Stränge relativ leicht gegeneinander verschieben können. Belastet man das Material allerdings noch stärker, brechen diese Stränge auseinander, es entsteht eine „geschmolzene“, also ungeordnete Ansammlung von Teilchenclustern – und die Zähigkeit der Substanz nimmt wieder zu: Immer mehr Teilchen werden aus ihren ursprünglichen Positionen gespült und bremsen so den Flüssigkeitsstrom ab. Dieses Verhalten gilt universell für alle Cluster-Kristalle. Mit einfachen theoretischen Überlegungen lässt sich die kritische Belastung, bei der die geordnete Struktur komplett geschmolzen ist, sehr genau vorhersagen.
Diese Forschung an „weicher Materie“ im Nano- und Mikrometerbereich ist nicht nur für die Grundlagenforschung interessant, Materialien dieser Art spielen auch im Alltag eine wichtige Rolle. Zu ihnen zählen Blut oder große Biopolymere wie etwa DNA-Moleküle. Sie spielen in der Biotechnologie, aber auch in der Erdöl- und Pharmaindustrie eine wichtige Rolle – und überall dort, wo maßgeschneiderte Nanomaterialien benötigt werden. Eine Flüssigkeit, die unter äußeren Kräften ihre Zähigkeit ändert verspricht jedenfalls ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten – von Stoßdämpfern über Flusssensoren bis hin zu Schutzkleidung.
TU Wien / AH