Wie sich Kristalle auflösen
Material löst sich nicht kontinuierlich, sondern in Pulsen.
Würfelzucker löst sich in Tee oder Kaffee, Karbonat in Meeren und Ozeanen. Bislang haben Forscher vermutet, dass sich solche Kristalle kontinuierlich in Flüssigkeit auflösen. Cornelius Fischer und Andreas Lüttge vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen – haben nun aber einen besonderen Prozess der Materialauflösung entdeckt, der sich auch auf die quantitative Vorhersagbarkeit natürlicher und technischer Prozesse auswirken wird. Statt in einem kontinuierlichen Prozess lösen sich Kristalle in Pulsen.
Abb.: Kristalle lösen sich nicht kontinuierlich, sondern in Pulsen, die hier Kraterwellen ähneln, auf. (Bild: Marum, U. Bremen)
Wie kristallines Material mit Flüssigkeiten reagiert, ist bestimmend für ganz alltägliche Prozesse in der Natur und in technischen Anwendungen – wie Metalle korrodieren oder Karbonatgestein zersetzt wird sind Beispiele, ebenso auch die Aufnahme von Arzneimittelwirkstoffen im Körper. Wie lange dauert es zum Beispiel, bis ein Medikament aufgenommen wird und sich der Wirkstoff freisetzt? Bislang sei man davon ausgegangen, dass die Reaktionsprodukte beständig von der Kristalloberfläche freigesetzt werden, das entspricht einer kontinuierlichen Auflösung.
„Neue experimentelle und analytische Ergebnisse zeigen aber etwas grundlegend Anderes: Material wird in einer Folge von Reaktionspulsen freigesetzt“, erklärt Cornelius Fischer. Das bedeutet, dass die zeitliche und räumliche Verteilung der Materialfreisetzung grundsätzlich anders funktioniert als bisher angenommen. Interessant wird es, wenn sich solche Pulse der Materialfreisetzung überlagern, denn so könnten völlig neue Porenmuster von Festkörpern entstehen. Ein Beispiel für eine klassische Anwendung, sagt Fischer, sei die Durchlässigkeit sonst dichter Festkörper, etwa wie Wasser durch Gestein sickert und so neue Wege für die Flüssigkeit schafft und das Gestein insgesamt poröser wird. Das Porenmuster zeigt dann, wie durchlässig das Gestein ist.
Die Forschung der Mineralogen ist zum Beispiel relevant für Risiko- und Sicherheitsabschätzungen, etwa wenn es um die Einlagerung von Gasen oder das Entsorgen von nuklearem Material geht. „Immer dann“, verdeutlicht Fischer, „wenn Prognosen für Anwendungen und Prozesse der Flüssigkeit-Festkörper-Reaktionen verbessert werden sollen“. Ihre neuen Ergebnisse stellen die vorherrschende konzeptionelle Ansicht in Frage, dass die Kristallauflösung einfach der umgekehrte Prozess des kontinuierlichen Kristallwachstums ist. „Solche Pulse wurden für Kristallwachstumsprozesse bislang nicht beobachtet“, sagt Fischer. Für ihre Studie haben die Forscher die Auflösung von Kalzit und Zinkoxid untersucht. Schnell reagierende Kalzitoberflächen bieten oft ein sehr heterogenes Bild.
„Zinkoxid zum Beispiel eignet sich jedoch gut für eine Beobachtung der Oberflächenveränderungen quasi in Zeitlupe“, erklärt Andreas Lüttge. „Als wir zum ersten Mal solche Pulse mit Zinkoxid-Oberflächen entdeckten, war es schwer zu glauben, dass dieses Ergebnis verallgemeinerungsfähig ist. Zu sehr bestimmen die komplexen Reaktionsmuster wie auf Kalzitoberflächen unsere Interpretation. Jetzt sind wir jedoch mit den neuen Ergebnissen in der Lage, solche Muster der Materialfreisetzung besser zu verstehen.“
Ziel der Untersuchungen von Fischer und Lüttge sind Modelle der quantitativen Prognose. Wie schnell und mit welchen räumlichen Mustern ändern sich Festkörperoberflächen und setzen Material frei? Wie entwickelt sich die Durchlässigkeit von festem Material? Fischer: „In Zukunft werden wir unsere neuen Erkenntnisse in reaktiven Transportmodellen anwenden, um für grundsätzliche und angewandte Fragestellungen eine bessere Vorhersagbarkeit der Materialfreisetzung zu ermöglichen.“
Marum / JOL