Wie Zellkerne Augen und Gehirn organisieren
Biophysikalische Analysen zeigen eine neue Bedeutung des Zellkerns für die Gewebeorganisation.
Im Inneren jeder Zelle übernehmen bestimmte Strukturen, die Organellen, Schlüsselfunktionen. Wie diese Organellen jedoch zur Bildung von Geweben und Organen beitragen, war bisher unbekannt. Die neuen Forschungsergebnisse der Campàs-Gruppe am Exzellenzcluster Physics of Life (PoL) der TU Dresden weisen dem Zellkern eine neue Bedeutung für die Gewebeorganisation zu, die weit über seine bisher bekannte Rolle bei der genetischen Regulierung hinausgeht: Der Zellkern steuert die Festigkeit von Augen- und Hirngewebe sowie die Anordnung der Zellen innerhalb des Gewebes.
So wie wir Menschen miteinander in Verbindung treten, tun es unsere Zellen auch. Während der embryonalen Entwicklung entstehen durch ständige physische Interaktionen zwischen den Zellen Gewebe und Organe. Wie Fabriken oder Straßen in Städten erfüllen unzählige Organellen dabei Aufgaben innerhalb der Zellen, damit diese reibungslos funktionieren. Bis jetzt ging die Wissenschaft nicht davon aus, dass Organellen während der Embryogenese eine direkte Rolle bei der Bildung von Organen spielen, da diese in den Zellen eingeschlossen sind.
Der Zellkern ist dafür bekannt, dass er Informationen in den Zellen verarbeitet und Gene in Abhängigkeit der empfangenen Signale ein- und ausschaltet. Er ist jedoch auch die größte und steifste Organelle in der Zelle und könnte daher neben seiner Funktion der Verarbeitung von Informationen auch die physische Struktur des Gewebes beeinflussen. Otger Campàs vom Exzellenzclusters Physik des Lebens der TU Dresden war besonders fasziniert von der Frage, welche Rolle die physikalischen Eigenschaften des Zellkerns bei der Gewebebildung spielen könnten. Aufbauend auf seiner vorherigen Forschungstätigkeit an der University of California, Santa Barbara, beschloss Campàs, die Rolle der Zellkerne bei der Bildung des Auges und des Gehirns von Wirbeltieren zu untersuchen.
„Wir haben die Festigkeit des Gewebes in der Netzhaut von Zebrafischen gemessen und festgestellt, dass sie von der Packungsdichte der Zellkerne abhängt. Dieser Zusammenhang kam völlig unerwartet, denn man ging davon aus, dass die Gewebemechanik von den Interaktionen an der Zelloberfläche abhängt, nicht von den Organellen im Inneren der Zellen“, sagt Campàs. Das Team entdeckte damit einen völlig neuen Forschungszweig, der für das Verständnis, wie Zellen die Embryonalentwicklung steuern, von entscheidender Bedeutung ist.
Frühere Pionierarbeiten hatten gezeigt, wie die Kräfte zwischen den Zellen das Gewebe zu einem flüssigen Zustand „schmelzen“ können, um Embryonen zu formen. Nun entdeckte das Team, dass sich Zellkerne so stark zusammenballen können, dass sie das Gewebe versteifen. Sangwoo Kim erklärt: „Durch die Erweiterung des Active Foam Models haben wir eine neue Art des Übergangs von fest zu flüssig identifiziert, die von der relativen Größe der Zellkerne und Zellen bestimmt wird.“ Als die Forschenden die relative Größe des Zellkerns sowohl in experimentellen als auch in theoretischen Tests untersuchten, stellten sie fest, dass die Festigkeit des Gewebes durch die Eigenschaften der Zellkerne gesteuert wird, wenn der Zellkern einen Großteil des Zellraums einnimmt.
Darüber hinaus fand Gruppe heraus, dass die Kerne, wenn sie so stark komprimiert sind, die Zellen in nahezu kristallinen Strukturen anordnen. „Wenn die Zellkerne beginnen, mechanisch zu interagieren“, so Campàs, „werden sowohl die Gewebemechanik als auch die zelluläre Ordnung nicht von der Zelloberfläche diktiert, sondern durch den Zellkern selbst gesteuert. Damit ist der Zellkern eine Organelle, die die Steifigkeit des gesamten Gewebes bestimmt.“ Die neuen Resultate stellen den Status quo der Zellkerne in Frage und enthüllt eine neue Rolle bei der Steuerung der Gewebeorganisation und -mechanik.
Um zu untersuchen, wie sich die Größe des Zellkerns auf die Organbildung auswirkt, verwendeten die Forscher Zebrafische. Diese Wirbeltiere sind unschätzbar für die Erforschung von Entwicklungsfragen: während ihrer Embryonalstadien sind sie völlig transparent und entwickeln sich schnell, was die Visualisierung der Organbildung in 3D ermöglicht. „Wir haben strukturelle Messungen und Quantifizierungen der Zellbewegung durchgeführt, wobei wir uns auf die sich entwickelnde Netzhaut und das Gehirn des Zebrafischs konzentriert haben“, erläutert Rana Amini. Mit diesen Messungen konnten sie nachweisen, dass sich die Größe von Zelle und Zellkern während der wichtigsten Entwicklungsstadien verändert und die Zellkerne dabei durch ihre Nachbarn an ihrem Platz eingeklemmt werden.
Während dieser Transformation schieben sich die Zellkerne wie Kaffeebohnen in einem Glas zusammen. Diese Organisation könnte für das Funktionieren des Auges wichtig sein. Denn im menschlichen Auge ist die Anordnung der Zellen sehr strukturiert und oft kristallin – eine Notwendigkeit für die Verarbeitung visueller Signale. So ist es auch beim Zebrafisch. Die „kristalline“ Anordnung der Zellen scheint das Ergebnis des Zusammenschiebens der Zellkerne während der Entwicklung des Auges zu sein.
Aber nicht nur im Auge sind die Zellkerne derart eingeklemmt: Das Team fand den gleichen Effekt auch im Hirngewebe, was eine neue Rolle des Zellkerns bei der Steuerung der Architektur verschiedener neuronaler Gewebe offenbart. Diese Arbeit unterstreicht auch eine mögliche Rolle von Defekten in der Struktur des Zellkerns bei der Entstehung von Krankheiten, die mit einer gestörten Gewebearchitektur einhergehen.
TU Dresden / JOL