15.03.2016

Als Premierminister während der Fukushima-Krise

Naoto Kan: Als Premierminister während der Fukushima-Krise Übersetzt von Frank Rövekamp, IUDICIUM-Verlag, München, 2015, 165 S., brosch., 14,80 Euro, ISBN 9783862054268

Naoto Kan

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Das ist zweifelsohne der Albtraum jeder politischen Führungspersönlichkeit: ein Nuklearunfall im eigenen Land. Naoto Kan hat diesen Albtraum im Jahr 2011 durchlebt. Er ruft mit diesem Buch seine Erinnerungen an den Unfall von Fukushima wach und zieht zugleich seine politischen Schlüsse aus den gewonnenen Erfahrungen.

Besonders interessant ist der Umstand, dass Kan ein Physikstudium an der Technischen Hochschule Tokio absolviert hat. Dennoch ist sein Buch nicht als technischer Bericht zu verstehen. Kan stellt gleich zu Beginn klar, trotz Physikstudiums kein Kernkraftexperte zu sein. Wer sich also zahllose Insidereinblicke in technische Details des Unfalls erhofft, dürfte von diesem Buch vielleicht enttäuscht werden. Dies ist nicht der Anspruch des ehemaligen Premierministers. Kan legt in seinem durchaus spannenden Buch vielmehr Rechenschaft über seine politischen Entscheidungen ab.

Im ersten Teil erinnert er sich in ein- bis zweiseitigen tagebuchartigen Einträgen (Kurzkapiteln) an die Tage und Herausforderungen unmittelbar nach dem Unfall. Im zweiten Teil beleuchtet er die politischen Schlussfolgerungen aus dem Unfall, die Anordnung von Stresstests, den angestrebten Ausstieg aus der Kernenergie, politischen Gegenwind sowie die Umstände seines Rücktritts. Im letzten, vergleichsweise kurzen Kapitel befasst sich Kan mit sozialpolitischen Herausforderungen und seiner neuen energiepolitischen Mission, die er seit dem Rücktritt verfolgt.

Er gibt unumwunden zu, seine Einstellung zur Kernkraft durch den Unfall um 180 Grad gedreht zu haben. An mehreren Stellen steht sein Buch daher auch als Rechtfertigung für sein neues energiepolitisches Bekenntnis. Dabei gibt Kan immer wieder glaubwürdige Einblicke in seine Gemütslage und wählt drastische Worte („es lief mir eiskalt den Rücken herunter“), mit denen er seinen „Albtraum“ und seine Angst vor dem vollständigen Kontrollverlust im Kernkraftwerk Fukushima und die daraus folgende Existenzbedrohung Ost-japans beschreibt. Wenn er jedoch schlussfolgert, Japan sei durch die jahrzehntelange Annahme, ein schwerer Unfall sei ausgeschlossen, so verblendet gewesen, dass man tatsächlich „auf nichts vorbereitet“ gewesen sei, stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit einer solchen Aussage. Spiegeln Statements wie dieses Kans tatsächliche Empfindung wider oder sind sie doch eher seiner neuen energiepolitischen Überzeugung geschuldet?

Man mag angesichts der unbestreitbaren Leistungen und Anstrengungen Japans in den Tagen und Wochen nach dem Unfall anderer Meinung sein. Kans radikale neue Einstellung zur Kernenergie führt mitunter zu überaus kontroversen Mutmaßungen; etwa, dass seiner Meinung nach die Kernkraft für den Untergang der Menschheit verantwortlich sein könnte. Man möge ihm jedoch zugestehen, dass seine Sichtweise das Resultat eines wochenlangen, nicht endenwollenden Gefühls der Ohnmacht ist. Letztlich verdankt Japan Naoto Kan, dass er das Land aus der größten Katastrophe seiner jüngeren Geschichte geführt hat.

Georg Steinhauser

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