Bohmsche Mechanik
Passon
Bohmsche Mechanik
Selten schlagen die Wellen ideologischer Vorurteile so hoch wie bei Interpretationsfragen der Quantenmechanik. Und dies betrifft leider Vertreter aller beteiligten Ansichten. Ein positives Beispiel für eine nüchterne und unideologisch gehaltene Darstellung ist Passons Buch über Bohmsche Mechanik: Der Autor führt auf elementare Weise und mit einem klaren Fokus auf die konzeptionellen Fragen in den Sachgegenstand ein. Er tut dies, obwohl selbst durchaus mit dem Bohmschen Ansatz sympathisierend, auf eine angenehm objektive und bisweilen sogar kritisch-distanzierte Weise. Das Buch schließt eine Lücke auf dem deutschsprachigen Markt, auf dem es mit Detlef Dürrs "Bohmsche Mechanik als Grundlage der Quantenmechanik" bislang nur eine eher mathematisch orientierte Darstellung gab.
Warum aber überhaupt Bohmsche Mechanik? Diese Theorie kann, wie Passon in der Einleitung feststellt, "alle experimentellen Ergebnisse der nichtrelativistischen Quantenmechanik reproduzieren. Sie hat jedoch ein radikal abweichendes Wirklichkeitsverständnis zur Folge." Es handelt sich daher, wissenschaftstheoretisch gesprochen, um den in der Praxis selten auftretenden Fall von Theorienunterbestimmtheit: empirische Äquivalenz bei ontologischer Differenz. Im direkten Vergleich scheint die Bohmsche Mechanik sogar besser dazustehen als die Kopenhagener "Standarddarstellung". Mit letzterer fährt zwar der Praktiker gut, der Wissenschaftsphilosoph aber sorgt sich um ihre epistemologischen und ontologischen Vor- und Nachteile: Nicht-Lokalität, Indeterminismus und beobachterabhängige Messung. Dem stellt die Bohmsche Theorie ebenso Nicht-Lokalität, dann aber Determinismus und Unabhängigkeit der Messung vom Beobachter entgegen. Was vordergründig als unschlagbarer Vorzug dasteht, hat seinen Hintergrund darin, dass es sich bei Bohm um eine Theorie (nicht-lokaler) verborgener Variablen handelt. Sie behauptet die Existenz von Teilchenbahnen, wenngleich uns diese epistemisch unzugänglich sind. Der vermeintlich objektive Indeterminismus der Standard-Quantenmechanik beruht somit auf unserer bloß subjektiven Unkenntnis der Anfangsbedingungen aller Teilchen des Bohmschen Universums. Nicht wenige Bohm-Kritiker wenden ein, dass dieser Einführung prinzipiell unzugänglicher Variablen etwas ¿Taschenspielertrickhaftes¿ anhaftet. Passon zeigt die Möglichkeiten und Charakteristika der Bohmschen Theorie in ihren wesentlichen Versatzstücken auf: die Quantengleichgewichtshypothese (bezüglich der Anfangsbedingungen), der Umgang mit Spin und Messproblem, EPR und Bell-Ungleichungen sowie ein ganzes Kapitel "praktischer" Anwendungen. Am meisten hat mir das vorletzte Kapitel über "Kritik an der Bohmschen Mechanik" gefallen - hier sind m.E. die vom Bohmianer einzuräumenden "leeren Wellenfunktionen" als Teil der Realität und die Debatte um den Surrealismus-Vorwurf von Englert-Scully-Süßmann-Walther von besonderem Interesse.
Zweifellos lässt das Buch noch Verbesserungen zu. So sind die anderthalb Seiten zu den bekannten konzeptionellen Problemen der Bohmschen Mechanik bezüglich ihrer relativistischen Erweiterung zu knapp. Denn genau an der Tatsache, dass es bis heute an einer überzeugenden Bohmschen Quantenfeldtheorie mangelt und der Bohmsche Formalismus für fast alle wichtigen Anwendungen nicht genügend aufbereitet und womöglich sogar unhandlich ist, liegt es, dass die Bohmsche Theorie unter ¿practizing physicists¿ kaum Beachtung findet. Dies unterminiert auch die Theorieunterbestimmtheit, da es sich bei der Bohmschen Theorie in diesem Sinne um keine "reife" Theorie handelt. Für diejenigen, die ihr Interesse an den heute so vernachlässigten Grundlagen aber nicht verloren haben, liegt mit Passons Buch eine äußerst empfehlenswerte Darstellung vor.
Priv.-Doz. Dr. Holger Lyre, Philosophisches Institut der Universität Bonn
Weitere Infos:
O. Passon: Bohmsche Mechanik
Verlag Harri Deutsch, Frankfurt a. M. 2004. VI+145 S., broschiert,
ISBN 3817117426