Strömungen der Forschung
Das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation feiert seinen 100. Geburtstag.
MPG / Alexander Pawlak
Vor hundert Jahren nahm das Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung seine Arbeit auf. Aus ihm wurde das heutige Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPI-DS), das grundlegende Fragen der Physik vernetzter dynamischer Systeme erforscht und damit seiner Leidenschaft für die großen physikalischen Zusammenhäng treu geblieben ist.
Das MPI-DS gehört wie beispielsweise das Max-Planck-Institut für Physik zu den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft mit einer langen Tradition. Besonders ist allerdings, dass es seit seinen Anfängen mit seiner Grundlagenforschung Pioniertechnologien beflügelte, allen voran die Luftfahrt. Dies hatte auch seine Kehrseite, weil es ein besonders hohes Dual-Use-Risiko bedeutete. Aus der Forschung am Kaiser-Wilhelm-Institut wurde im Nationalsozialismus rasch auch Kriegsforschung.



Seit zwanzig Jahren stehen auch wieder Probleme der Strömungsphysik auf der Agenda, mit Strahlkraft über die Grundlagenforschung hinaus. „Heute ist das Institut ein Ort des Austauschs – zwischen Disziplinen, zwischen Theorie und Anwendung, zwischen Forschung und Gesellschaft. Ob die Physik lebender Materie oder Wolkenbildung, in Göttingen wird sichtbar, wie Grundlagenforschung neue Perspektiven schafft", betonte MPG-Präsident Patrick Cramer im Zusammenhang mit dem Jubiläum. Er wies auf die Aktivitäten während der Corona-Pandemie hin. So wandte sich Viola Priesemann mit ihrer Forschungsgruppe „Dynamik Neuronaler Systeme“ einem neuen Feld zu, indem sie die Ausbreitung des Virus und die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen untersuchte. Eberhard Bodenschatz, derzeit geschäftsführender Direktor des MPI-DS, führte Untersuchungen zur Wirksamkeit von Gesichtsmasken durch.
Ausgangspunkt für die lange Geschichte des Institus waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts aerodynamische Phänomene, die ein wachsendes ingenieurtechnisches Problem darstellten, zunächst bei Bauten, die dank der innovativen Materialien der neuen Stahlindustrie bislang nicht vorstellbare Höhen und Spannweiten erreichten. Aerodynmaische Messungen wurden damals beispielsweise am Eiffel-Turm vorgenommen. Mathematisch berechenbar und physikalisch verstanden waren das komplexe System von Luftströmung, Strömungshindernis und dessen Form jedoch nicht.
Ludwig Prandtl war in diesem Bereich ein bedeutender Pionier. Als Professor für angewandte Mechanik an der Universität Göttingen gründete er dort 1907 die Modellversuchsanstalt für Luftfahrt, die als Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) 1918 zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kam. Trotz der Bedeutung der AVA als international führende Forschungsstätte, sah Prandtl ein Defizit bei der Bearbeitung von Grundsatzfragen jenseits der Flugzeug-Aerodynamik. Sein Wunsch nach einer eigenen Einrichtung, die das leisten sollte, erfüllte sich 1925 mit der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Strömungsforschung.

Neu und ungewöhnlich für die Zeitgenossen war, dass Prandtl die Lösungen für Probleme, die beispielsweise Flugzeugkonstrukteure und Architekten mit Luftströmungen hatten, mathematisch anging. So war es Hugo Junkers 1915 zwar gelungen in seiner Fabrik für Badeöfen das erste funktionsfähige Ganzmetallflugzeug zu bauen. Doch die Frage, welche Kräfte es in der Luft hielten, war zu dem Zeitpunkt noch vollkommen ungeklärt. Eine systematische Lösung erlaubte erst die von Prandtl entwickelte Tragflügeltheorie, die das Zusammenspiel von Über- und Unterdruck an einem angestellten Flügel unter Berücksichtigung der Strömungsgeschwindigkeit physikalisch beschrieb und berechenbar machte.
Der praktisch-experimentelle wie der mathematisch-physikalische Zugang ergänzten sich nun in dem „Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung verbunden mit der Aerodynamischen Versuchsanstalt“. Die innovative Methodik, die Prandtl als neues Paradigma in der Wissenschaft etablierte, bestand darin, theoretische Probleme der Strömungsmechanik mithilfe von Modellen in hochspezialisierten Versuchsanlagen zu lösen. Ein Ansatz, den heute jeder Automobil- sowie Flugzeughersteller oder auch Brückenbauer verfolgt. Der Forschungsansatz des neuen Doppelinstituts ging allerdings – wie sein Name verrät – weit über die Aerodynamik hinaus. Im Fokus standen vielmehr jegliche Art von Strömungen in Gasen und Flüssigkeiten sowie die Turbulenz.
Die Neugründung machte Göttingen nicht nur zu einem Mekka der jungen Aerodynamik, sondern war auch ein Schritt hin zum arbeitsteiligen und hochspezialisierten modernen deutschen Wissenschaftssystem. In ihm fanden Staat, Industrie und Forschung erstmals zu einem ebenso spannungsreichen wie beflügelnden Interessensnetzwerk zusammen. Wissenschaftliche Erkenntnisse erlangten eine nie dagewesene Bedeutung als Teil einer Wertschöpfungskette der Produktion von Wissen und dessen Anwendung.
Der Gedanke, dass die Forschung auch der aufstrebenden Großindustrie und dem Staat nützlich sein könnte, setzte sich immer weiter durch. 1910 goss Adolf von Harnack, Theologieprofessor und wissenschaftspolitischer Berater des Kaisers, ihn in ein Konzept, das zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft führte. Harnack entwarf auch die Vision des modernen Wissenschaftssystems als „Großbetrieb“. Dieser setzte einerseits auf Arbeitsteilung, andererseits auf Teamwork und starke Vernetzung der separierten Elemente und verankerte die Forschung zusammen mit Staat und Ökonomie im selben Interessensfeld. Staatlicherseits fand dieses Konzept großen Zuspruch.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann für das Göttinger Institut eine Phase der Expansion. Zu den militärischen Projekten der Regierung Hitler, die seit 1935 massiv aufrüstete, gehörte auch die Luftfahrt. Das Reichsluftfahrtministerium bewilligte 1933 umgehend verschiedene Bauprojekte des Instituts, das in den folgenden Jahre personell stark wuchs – das betraf vor allem den Teil der AVA, die mit über 700 Mitarbeitenden im Zweiten Weltkrieg zu einer Großforschungseinrichtung wurde.
Prandtl trat zwar nie in die NSDAP ein, aber er richtete die Grundlagenforschung seines Institut immer stärker auf militärische Belange der Regierung aus. Die AVA und auch das KWI übernahmen Aufträge für das Militär ohne ihr Forschungskonzept grundlegend ändern zu müssen, denn das Interesse der Forscher an Grenzschichten und Turbulenz waren kompatibel mit den militärischen Interessen des NS-Staats an innovativen Schiffen und Flugzeugen für den deutschen Angriffskrieg. Um zielsicherere Torpedos, strahlgetriebene Raketen, schnellere U-Boote und wendigere Flugzeuge zu konstruieren, brauchte die Rüstungsindustrie auch Methoden aus der Strömungsphysik. Die AVA und das Institut wiederum konnten anhand der praktischen ingenieurtechnischen Probleme nicht gelöste Forschungsfragen bearbeiten und waren zudem umfassend finanziert.
1935 richtete das KWI einen speziellen Strömungskanal für die Untersuchung der Rauigkeit von Schiffsplatten ein und arbeitete dabei eng mit der Marinewerft in Wilhelmshaven zusammen. Da das Projekt keine raschen Ergebnisse lieferte, stellte die Marine es allerdings 1941 ein. Die Rauigkeit von Oberflächen ist für Strömungen hochrelevant, weil sie einen entscheidenden Einfluss auf den Widerstand, die Strömungsstruktur und den Energieverlust eines strömenden Mediums (wie Luft oder Wasser) hat. Je rauer beispielsweise die Oberfläche einer Rohrleitung oder Pipeline ist, desto mehr Reibung entsteht, weil die kleinen Unebenheiten Wirbel erzeugen und Energie aus der Rohrströmung ziehen. Noch heute sind die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Untersuchung richtungsweisend.

Der Zusammenbruch Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs führte zunächst zum Aus der AVA, da die Alliierten jegliche Art von Luftfahrtforschung als Rüstungsforschung verboten. Das KWI-S hingegen wurde mit der Gründung der Max-Planck-Gesellschaft 1948 in diese übernommen und die Forschung fast bruchlos weitergeführt. Nach der Emeritierung von Prandtl wurde Albert Betz, der vormals die AVA geleitet hatte, Direktor. Und der Prandtl-Schüler Walter Tollmien wurde an das Institut berufen (er übernahm 1957 die Leitung). Er trug entscheidend dazu bei, dass die Strömungsphysik zu einer interdisziplinären Wissenschaft von enormer Bedeutung wurde. Die moderne Turbulenzforschung, die den Prototyp für die Chaostheorie darstellt, ist eng mit seinem Namen verbunden. Bei ihm promovierte 1957 auch der spätere Gründungsdirektor des Max-Planck-Instiuts für Meteorologie und Nobelpreisträger für Physik (2021), Klaus Hasselmann.
In den 1975er-Jahren erweiterte das Institut seine Forschung basierend auf einem vom Göttinger Nobelpreisträger Manfred Eigen vorgeschlagenen Plan. Mit den Direktoren Jan-Peter Toennies, Hans Pauly und Heinz-Georg Wagner wurde der Schwerpunkt auf die Untersuchung molekularer Wechselwirkungen, Atom- und Molekülphysik sowie Reaktionskinetik gelenkt. Ernst-August Müller setzte unterdessen die Grundlagenforschung im Bereich der Strömungsdynamik fort und konzentrierte sich dabei insbesondere auf die Aeroakustik.
Theo Geisel verlagerte den Schwerpunkt 1996 auf nichtlineare Dynamik und deren Anwendungen in den Neurowissenschaften und der Netzwerkdynamik. Mit Stephan Herminghaus und Eberhard Bodenschatz wurde dann 2003 die Forschung an Fluiden wieder am Max-Planck-Institut etabliert. Der Forschungsschwerpunkt verlagerte sich auf die Untersuchung von Dynamik und Selbstorganisation in einer Vielzahl von Bereichen – von der Zellbiologie über Granulate und Turbulenz bis hin zur Wolkenphysik und sogar zum öffentlichen Nahverkehr. 2004 wurde das Institut daher in Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation umbenannt.
Mit dem neuen Windkanal steht dem Institut seit 2010 auch wieder ein weltweit einzigartiges Großgerät zur Verfügung. Unter anderen untersucht dort die Forschungsgruppe von Claudia Brunner, wie sich Windkraftanlagen in turbulenten Strömungen verhalten. Die Idee, dass die Strömungsforschung bei der Gewinnung von Energie aus Wind entscheidend helfen könnte, ist allerdings so alt wie das Institut. Schon 1920 hatte Albert Betz in seiner Doktorarbeit bei Prandtl die maximale Leistung von Windkraftanlagen berechnet. Dieses Betzsche Gesetz findet noch heute Anwendung.
Bereits 1926 hatte Ludwig Prandtl das Konzept für eine „Forschungs- und Prüfungsanstalt für Windkraftnutzung“ vorgelegt, da es an Grundlagenwissen für Technologien fehle, die die „Energie der bewegten Luft“ nutzbar machen könnten. Weitsichtig warnte Prandtl, dass „die beiden wichtigsten Energiequellen, welche das heutige Industriezeitalter in seinen Dienst gestellt hat, Kohle und Oel, keineswegs unerschöpflich sind.“
Der wachsenden Bedeutung der Fluiddynamik trägt das MPI-DS auch durch seine Beteiligung am 2016 gegründeten Max Planck Center for Complex Fluid Dynamics Rechnung, das in Twente angesiedelt ist. Hier kooperiert es mit dem Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz und der Arbeitsgruppe von Detlef Lohse von der Universität Twente, der Gründungsdirektor des Centers ist.
Weitere Informationen
- Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
- Geschichte des Instituts
- Max Planck Center for Complex Fluid Dynamics
- Video: Ludwig Prandtl (1875–1953) [Vortrag von Eberhard Bodenschatz, engl.]
- Ausstellung: Magisch! Wie sich unsere Welt selbst organisiert
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