Der lange Schatten von Tschernobyl
G. Ludwig, M. Gorbatschow: Der lange Schatten von Tschernobyl, Edition Lammerhuber 2014, 252 S., geb. mit Schuber, 75 €, ISBN 9783901753664
G. Ludwig, M. Gorbatschow
Der renommierte Fotograf Gerd Ludwig hat Tschernobyl seit 1993 neun Mal besucht. Dabei hat er sich weiter als jeder andere Fotograf in den „Bauch“ des Reaktorblocks 4 vorgewagt. Dort blieb ihm wegen der hohen Strahlenbelastung nur eine Viertelstunde, um zu fotografieren. Die dabei entstandenen Bilder finden sich mit vielen weiteren Fotos in diesem großformatigen Band. Das Vorwort stammt von niemand Geringerem als Michael Gorbatschow, der im April 1986 gerade 13 Monate als sowjetischer Staatspräsident im Amt war.
Diesen Band zu durchblättern ist beklemmend. Ich fühlte mich unweigerlich an die apokalyptischen Landschaften in Andrei Tarkowskis Film „Stalker“ erinnert, in dem sich ein Kundschafter seinen Lebensunterhalt mit Beutezügen in einer rätselhaften „Zone“ verdient bzw. damit, Leute illegal dort hinein zu schleusen. So etwas geschah auch in der evakuierten Zone um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Die Plünderer wurden aber mit den Jahren von Katastrophen-Touristen abgelöst, die sich vom Verfall und der Rückeroberung der Geisterstadt Prypjat durch die Natur angezogen fühlen.
All das dokumentiert Gerd Ludwig mit seinen Fotografien. Sein Augenmerk gehört aber den Opfern der Katastrophe, sei es durch Strahlenschäden oder durch den Verlust der Heimat infolge der großangelegten Evakuierung. Das ist allerdings nicht unproblematisch. Viele der Bilder zeigen krebskranke Menschen oder verkrüppelte Kinder. Auch wenn in den Bildunterschriften oft betont wird, dass ein direkter Zusammenhang zwischen den gezeigten Leiden und der radioaktiven Belastung nicht immer herzustellen ist, haben die seitengroßen Bilder doch eine ungleich höhere Suggestivkraft als die wenigen einschränkenden Zeilen.
Von diesem außergewöhnlichen Bildband sollte man sich keine detaillierten Informationen über Unglückshergang, Rettungs- oder Evakuierungsmaßnahmen erwarten, sondern eher bedrückende Einblicke, die einem die Tragweite des Unglücks vor Augen führen, aber auch die Bauarbeiten für den zweiten, milliardenteuren „Sarkophag“ dokumentieren. Unter der riesigen Konstruktion soll der zerstörte Reaktor für immer verschwinden. Das Buch ist nicht ganz billig. Dabei sollte man aber berücksichtigen, dass eine Crowdfunding-Kampagne für höchste Druck- und Papierqualität sowie Bindung gesorgt hat, ohne dass der Preis weiter steigen musste.
Alexander Pawlak