29.04.2024

Die großen Unbekannten der Mathematik

Kate Kitagawa und Timothy Revell: Die großen Unbekannten der Mathematik, Goldmann Verlag, München 2023, geb., 400 S., 24 Euro, ISBN 9783442316847

Kate Kitagawa und Timothy Revell

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Kate Kitagawa ist eine weltweit anerkannte Expertin für Mathematik­geschichte, der Wissenschaftsjournalist Timothy Revell ist auch studierter Mathematiker. Gemeinsam beleuchten sie die Geschichte der Mathematik, ohne den typischen westlich und männlich zentrierten Standpunkt einzunehmen: Sie verweisen explizit auf wesentliche Beiträge aus der arabischen Welt, Indien, China und Japan sowie auf die zumeist in Vergessenheit geratenen Meilensteine von Frauen – und das, ohne die prägenden Momente durch europäische Mathematiker zu vernachlässigen. Inhaltlich ein Genuss; doch vorab sei angemerkt, dass das unter dem Titel „The Secret Lives of Numbers“ (Viking 2023) erschienene Original die empfehlenswertere Lektüre ist.

Entlang der historischen Entwicklung berichten Kitagawa und Revell, wie sich aus dem Umgang mit Zahlen und der Notwendigkeit des Zählens im Laufe tausender Jahre das komplexe Gebilde der uns heute bekannten Mathematik entwickelt hat. In 15 Kapiteln stellen sie zum Beispiel den Ursprung der Null als eigenständige Zahl, den Weg zur Infinitesimalrechnung sowie den Einfluss anderer Wissenschaften, wie Physik und Astronomie, in den verschiedenen Epochen anhand zahlreicher Beispiele dar.
Ganz nebenbei treten zahlreiche Personen auf, welche die Entwicklung maßgeblich geprägt haben. Dazu gehören Granden wie Descartes oder Gauß, aber auch viele, deren Namen aus ganz unterschiedlichen Gründen weniger bekannt sind. Da ist zum Beispiel der Chinese Liu Hui, der im 3. Jahrhundert die Kreiszahl π auf fünf Dezimalstellen genau berechnete, lineare Gleichungssysteme mit dem später nach Gauß benannten Eliminationsverfahren löste und in seinen „Neun Kapiteln der Rechenkunst“ den Beweis als mathematisches Werkzeug einführte. Auf den Gelehrten al-Chwarizmi gehen entscheidende Impulse in der Algebra und die Einführung des Algorithmus zurück. Und während sich Leibniz, Newton und ihre Gefolgschaften um die Priorität bei der Infinitesimalrechnung zankten, nutzte die indische Mathe­matik schon 400 Jahre früher ganz ähnliche Konzepte.

Außerdem stellen Kitagawa und Revell auch die Frauen ins Rampenlicht, die im Lauf der Jahrhunderte entscheidende Beiträge geliefert haben. Viel zu häufig wurden einige von ihnen totgeschwiegen und andere gar als manipulative Plagiatsjägerinnen dargestellt – bis in unsere Zeit hinein. Letzteres trifft vor allem auf Sofja Kowalewskaja zu, deren Leistungen das Autorenduo gekonnt und mit vielen Belegen ins rechte Licht rückt. Nicht zu kurz kommen auch die Frauen, die als „Computer“ zum Beispiel die Astronomie voranbrachten – allen voran Antonia Maury. Wer mehr wissen will, kann anhand des ausführlichen und bestens zugeordneten Quellenverzeichnisses weiter recherchieren.

Mehr als ein Ärgernis ist aber die Übersetzung durch Nastasja S. Dresler. Ob man sich bei der Transliteration arabischer und russischer Namen an deutsche oder internationale Normen hält, bleibt wohl Geschmackssache, sollte aber einheitlich sein. Die korrekte Übersetzung für „seniority“ nicht zu recherchieren, sondern schlicht in Anführungszeichen „Vorrangigkeit“ zu schreiben, mag unter Zeitdruck geschehen. Und dass eine promovierte Philosophin nicht weiß, dass als Abkürzung für den größten gemeinsamen Teiler im Deutschen ggT geläufig ist, und daher die englische Abkürzung GCD für „greatest common divisor“ einführt – geschenkt. Aber die „Republic of Letters“, auch bekannt als Res publica literaria oder Gelehrtenrepublik, mit „Republik der Buchstaben“ zu übersetzen, grenzt bei der vermeintlichen Vorbildung an Unvermögen. Selbst Google Translate liefert dafür „Republik der Briefe“, was immerhin zum beschriebenen Kontext gepasst hätte: Die Gelehrtenkreise kommunizierten bis ins 18. Jahrhundert mit Briefen. Mit dieser Übersetzung hat der Verlag dem wirklich gelungenen Text einen Bärendienst erwiesen.

Kerstin Sonnabend

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