How Did Meyer Survive?
Wolfgang L. Reiter: How Did Meyer Survive? Wie der Physiker Stefan Meyer die NS-Diktatur überlebte, Czernin Verlag, Wien, 2022, 199 S., 25 Euro, ISBN 9783707607642
Wolfgang L. Reiter
Im Juli 1945 verfasste Otto Hahn während seiner Internierung im englischen Farm Hall einen Bericht über seine „Beziehungen zu Nichtariern“, d. h. über das Schicksal von Bekannten und Kollegen, die nach der nationalsozialistischen Gesetzgebung zumeist als Juden galten. Darunter war auch der österreichische Physiker Stefan Meyer (1872 – 1949), der ihm als Gründer des Wiener Radiuminstitutes und Pionier der Radioaktivitätsforschung fachlich nahestand.1) Hahn hatte zuvor vergeblich versucht, ihm bei der Auswanderung zu helfen und wusste, dass Meyer „bis in die letzte Kriegszeit in [Bad] Ischl noch unbehelligt gelebt“ hatte. In Klammern setzte er hinzu: „wie ein Wunder!“ Das war es in der Tat, weil Meyer und seine Frau nach den NS-Gesetzen als Juden einzustufen waren und sein älterer Bruder, der Chemiker Hans Leopold Meyer, deshalb nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er nur wenige Monate überlebte.
Der Autor Wolfgang Reiter scheint geradezu prädestiniert dafür zu sein, dieses Rätsel zu lösen. Er studierte in Meyers Institut selbst Physik, behandelte dessen Person als Wissenschaftshistoriker in zahlreichen Aufsätzen und wuchs dazu in Ischl auf, wo seine Familie Kontakt zu der Tochter Meyers hatte, die noch in der elterlichen Villa lebte. Aber weder sie noch ihr rechtzeitig emigrierter Bruder waren zu Auskünften bereit, da sie sich nicht auf ihren jüdischen Familienhintergrund ansprechen lassen wollten und deshalb zeitweise sogar mit Klage drohten.
So gelang es erst nach einigen Aktenfunden, dieser speziellen Überlebensgeschichte näher zu kommen. Der Autor lässt die Lesenden an seiner Rekonstruktion dieses Lebensabschnittes von Meyer teilhaben, nicht ohne auf die weiterhin offenen Fragen hinzuweisen. Eine wichtige Rolle spielte hier die Tochter Meyers, die durch eine kurze Scheinehe mit einem Norweger, der zudem im Widerstand aktiv war, die norwegische Staatsbürgerschaft erwarb. Auf diese Weise konnte sie ohne persönliche Gefährdung aktiv werden. Sie versuchte mithilfe eines Reichssippenforschers und assistiert von Anwälten, ihrem Vater den Status eines „Ariers“ zu verschaffen. Die Begutachtung oblag letztlich dem „Reichssippenamt“, das die vorgelegten Akten sowie ein „biologisches Gutachten“ zu bewerten hatte. Obwohl das zu keinem günstigen Ergebnis für Meyer führte, hatte er damit Zeit gewonnen und überlebte schließlich den NS-Staat in Bad Ischl, das seit 1941 ständiger Wohnsitz von ihm und seiner Frau geworden war.
Dem Autor gelingt es, einige Mechanismen des polykratischen NS-Staates an dem speziellen Beispiel von Stefan Meyer zu analysieren. Damit fügt er den wenigen Grenzfällen des Überlebens durch „Mischehen“ oder aufgrund der Reklamation kriegswichtiger Arbeiten wie bei Hartmut Kallmann oder Richard Gans eine weitere, ganz anders gelagerte Geschichte hinzu.2) Deshalb ist dieses detailreiche Buch eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Dr. Stefan L. Wolff, Deutsches Museum München
1) Zu Meyer vgl. S. Fengler und C. Forstner, Physik Journal, Februar 2011, S. 34, PDF: bit.ly/40gXwAD
2) Zu Kallmann und Gans vgl. S. Wolff, Physik Journal, November 2020, S. 29, PDF: bit.ly/3wIuWdS