Realität+
David J. Chalmers: Realität+. Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2023, geb., 638 S., 38 Euro, ISBN 9783518588000
David J. Chalmers

Was existiert wirklich? Die meisten Menschen leben in der Annahme, dass es eine Außenwelt gibt, die unabhängig von ihnen selbst besteht. In dieser gibt es materielle Körper, welche die Physik untersucht. Skeptische Stimmen fragen, woher wir etwas über die Außenwelt wissen. Gehen die Eindrücke materieller Gegenstände tatsächlich auf eine Außenwelt zurück, die ungefähr so beschaffen ist, wie wir uns das denken?
In seinem neuen Buch positioniert sich der australische Philosoph David J. Chalmers neu in dieser alten Debatte. Seine Argumentation beruht maßgeblich auf Computersimulationen und der virtuellen Realität (VR), wie sie uns etwa durch VR-Brillen zugänglich ist. Nach Chalmers ist es nicht nur möglich, sondern sogar recht wahrscheinlich, dass die Eindrücke, die wir beispielsweise von Tischen haben, einer Computersimulation entstammen. Dabei könnte diese mit unserem Gehirn verbunden sein, oder aber wir sind selbst Teil einer Computersimulation. In beiden Fällen folgt nach Chalmers aber nicht, dass wir uns über Tische täuschen. Denn auch simulierte Tische gelten für ihn als „real“ und lassen sich physikalisch untersuchen. Nur bestehen sie letztlich aus Bits – ähnlich, wie es die „It-from-Bit“-Hypothese von John A. Wheeler besagt.
Chalmers wendet diese Überlegungen auch auf das an, was sich uns darbietet, wenn wir eine VR-Brille aufsetzen. Wenn ich mich etwa mit einem VR-Headset in eine mittelalterliche Stadt versetze, dann habe ich es mit einer virtuellen Stadt zu tun, die aus echten, allerdings digitalen Objekten besteht. Chalmers argumentiert weiter, dass längere Aufenthalte in der virtuellen Realität nicht weniger wertvoll sind als unser Leben in der gewöhnlichen Realität. Mithilfe von VR-Brillen können wir nicht nur unsere Erfahrungen erweitern, sondern auch in wertvoller Weise mit anderen Menschen interagieren.
Mit diesen Überlegungen antwortet Chalmers letztlich auf die großen Fragen der Philosophie: Wie ist die Realität beschaffen? Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Sein Buch verfolgt daher nicht nur das Ziel der Technikphilosophie, moderne Technologien mit philosophischen Mitteln zu analysieren und zu fragen, ob Maschinen ein Bewusstsein haben. Vielmehr geht es ihm auch darum, mit der Betrachtung neuer Technologien in die Probleme der Philosophie einzuführen und diese in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Daher geht Chalmers auf wichtige klassische Positionen der Philosophie etwa von Descartes oder Kant ein. Hauptziel des Buches ist es aber, seine eigene Position zu entfalten und zu verteidigen.
Diese Position entspricht nicht immer dem, was wir im Alltag denken, regt aber zum Nachdenken an. Chalmers verteidigt seine Ansichten mit Scharfsinn, schreibt klar und illustriert seine Überlegungen mit vielen Passagen aus Filmen und Literatur. Dadurch bietet sein Buch die faszinierende Möglichkeit, viele aktuelle Debatten aus unterschiedlichen Bereichen der Philosophie kennenzulernen. Der Schwerpunkt liegt dabei erkennbar auf Fragen nach dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Wissen. Daher ist sein Buch nicht nur allen zu empfehlen, die sich philosophisch mit der virtuellen Realität auseinandersetzen möchten, sondern auch denjenigen, die sich für den Grenzbereich von theoretischer Physik und Philosophie interessieren. Sie finden darin nicht nur spannende Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug der Physik, sondern lernen auch zu verstehen, warum eine Staubwolke kein Rechner ist.
Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart, Universität Bern