Stochastic Geometry and its Applications
N. S. Chiu et al.: Stochastic Geometry and its Applications, Wiley, Chichester 2013, 3. Aufl., 570 S., geb., 114 $, ISBN 9780470664810
N. S. Chiu et al.
„Un beau désordre est un effet de l’art“, schrieb der französische Autor Nicolas Boileau im 17. Jahrhundert. Amorphe, ungeordnete Systeme spielen in der Physik eine große Rolle, über viele Längenskalen von Nanostrukturen bis zur Struktur des Universums. Das Buch von Song Nuk Chiu, Dietrich Stoyan, Wilfrid S. Kendall und Joseph Mecke beschreibt die stochastische Geometrie als diejenige mathematische Disziplin, die sich mit ungeordneten räumlichen Strukturen befasst. Diese Neuauflage eines Klassikers erweist sich als deutlich zugänglicher für Nicht-Mathematiker.
Das Themengebiet kennzeichnet eine deutliche Disparität zwischen Physik und Mathematik. Der simulationsgestützte Zugang der Physik hat beeindruckende Befunde erzielt – man denke etwa an die Universalität von Perkolationsübergängen. Die mathematische Behandlung ist dagegen äußerst kompliziert und oftmals eingeschränkt auf grundlegende Resultate. Mathematisch sind selbst Fragen zur Existenz des Perkolationsüberganges schwierig.
Allerdings ist es irreführend zu glauben, dass die rigorose maßtheoretische Behandlung der stochastischen Geometrie im Zeitalter explodierender Rechnerleistung ein unwichtiges Detail darstellt: Bekannte Paradoxien – wie Bertrands Paradoxon des Nadelwurfproblems – illustrieren die konzeptionellen Subtilitäten räumlich ungeordneter Systeme. Ebenso sind moderne physikalische Theorien (z. B. die „Fundamental Measure Theory“) für Dichtefunktionale von Flüssigkeiten1) ohne das Fundament der stochastischen Geometrie und der Integralgeometrie nicht denkbar. An dieser Stelle offenbart sich allerdings das Problem, dass der Formalismus der stochastischen Geometrie in der Physik nur leidlich bekannt ist.
Das Buch deckt die wichtigsten Modelle und Konzepte der stochastischen Geometrie ab, auf eine gut illustrierte Art, die es dem Physiker erlaubt, den mathematischen Formalismus mit dem Begriffsgebilde der Physik ungeordneter Strukturen in Beziehung zu setzen. Im Vergleich zur vorigen Auflage sind Inhaltsverzeichnis, Autoren- und Sachindex sowie die umfangreiche Literaturliste stark verbessert und machen das Buch zu einem wichtigen Referenzwerk.
Die vier Autoren haben kein Buch über die Physik räumlich ungeordneter Strukturen verfasst, sondern über deren Mathematik – in einer der bemühten Physik-Leserschaft zugänglichen Form. In diesem Sinne ist es komplementär zu physikalisch orientierten Büchern vergleichbaren Inhalts wie „Random Heterogeneous Materials“ von Salvatore Torquato. Das Buch von Chiu et al. bietet eine hervorragende Grundlage für eine von Mathematik und Physik gemeinsam gehaltene „Tandemvorlesung“ über räumlich ungeordnete Strukturen. Dies wäre ein nachhaltiger Beitrag zur Weiterentwicklung der stochastischen Geometrie und der Physik ungeordneter Systeme.
Dr. Gerd Schröder-Turk, Maths & Stats, Murdoch University Perth und Theoretische Physik, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg