19.02.2010

The Strangest Man

Farmelo, G.

Farmelos Biografie von Paul Dirac liest sich flüssig, und der Autor bemüht sich konsequent, keine Kenntnisse der modernen Physik vorauszusetzen. Dennoch keimt im Rezensenten bald die bange Frage auf: Für wen genau ist diese populärwissenschaftliche Biografie von Dirac geschrieben? Einstein hatte zumindest seine Politik, Heisenberg sein Atombombenprojekt und Schrödinger seine Frauen, aber was könnte den Leser am berühmtesten Weltfremden unter den modernen Physikern interessieren, wenn nicht die abstrakte Schönheit und mathematische Brillanz seiner Theorien? Diese in ein paar dürren Worten verständlich zu machen (das Buch enthält keine einzige Gleichung), ist eine große Aufgabe. Man tut Farmelo nicht allzu unrecht, wenn man feststellt, dass er daran weitgehend gescheitert ist. Anschauliche Thesen wie den See der negativen Elektronen behandelt er noch einigermaßen ausführlich, aber die Erläuterungen zu Diracs zentralen Leistungen wie der Transformationstheorie, der Quantisierung des elektromagnetischen Feldes oder der relativistischen Wellengleichung des Elektrons sind extrem oberflächlich bis schlicht falsch. Behauptungen, wie z. B. dass die Maxwellsche Elektrodynamik die Emission und Absorption von Strahlung nicht beschreiben kann (S. 117) oder dass Elektronen Anregungszustände des elektromagnetischen Feldes sind (S. 399), erwecken kein großes Vertrauen in die Sachkenntnis des Autors. Für den Leser, der sich für den Inhalt von Diracs Theorien interessiert, bleibt Helge Kraghs Biografie von 1990 die wesentlich überlegene Quelle.

Was Farmelos Buch dennoch lesenswert macht, sind die zahlreichen Zitate aus Diracs privater Korrespondenz, insbesondere mit seiner Ehefrau Margit, der temperamentvollen Schwester Eugene Wigners. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Beziehung zweier völlig verschiedener Menschen, die nach jahrelanger zögerlicher Annäherung eine anscheinend glückliche, wenn auch recht eigenartige Familie gründeten. Farmelos Darstellung leidet allerdings unter einem eher überflüssigen Kunstgriff: Er wartet bis zum letzten Kapitel, bis er endlich ausspricht, was sich jedem Leser (selbst mit geringen psychologischen Kenntnissen) schon hunderte Seiten zuvor aufgedrängt hat, nämlich dass Dirac wohl unter dem Asperger-Syndrom, einer milden Form des Autismus, litt. Dadurch vergibt Farmelo die Chance, im Hauptteil des Buches eine Ebene der psychologischen Reflexion einzuführen, die über die üblichen Anekdoten vom versponnenen Professor hinausgeht. Doch was Farmelo zeigt, wenn auch kaum analysiert, ist tief berührend: wie einer unter großen Mühen die Sprache der menschlichen Emotionen lernt, die ihm so fremd ist wie das Balzritual zentralasiatischer Hühnervögel.

Dr. Christoph Lehner

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

G. Farmelo, The Strangest Man: The Hidden Life of Paul Dirac, Quantum Genius

Faber and Faber, London 2009, 539 S., Taschenbuch, ISBN 9780571222865

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