19.10.2023

Unbestimmt und relativ?

Helmut Fink, Meinard Kuhlmann (Hrsg.): Unbestimmt und relativ? Das Weltbild der modernen Physik ­Springer, Berlin 2023, brosch., VIII + 231 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 9783662656433

Helmut Fink, Meinard Kuhlmann (Hrsg.)

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Die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik haben die Physik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehörig umgekrempelt. Plötzlich standen die liebgewonnenen absoluten Vorstellungen von Raum und Zeit zur Debatte, und der deterministischen Selbstgewissheit der klassischen Physik schien der Boden unter den Füßen weggezogen. Ist unsere Welt damit „Unbestimmt und relativ“ geworden, wie es der Titel des vorliegenden Sammelbandes fragend suggeriert? Dieser geht zurück auf die Vorträge eines Symposiums zum Weltbild der modernen Physik, das bereits im September*) 2019 in Nürnberg stattgefunden hat, organisiert von der Heisenberg-Gesellschaft zusammen mit der Arbeitsgruppe Philosophie der Physik (AGPhil) der DPG.

Die Einleitung von Helmut Fink und die Beiträge von Manfred Stöckler und Meinard  Kuhlmann sind in jedem Fall eine gute Lektüre, um einen Einblick in aktuell gängige Perspek­tiven an der Schnittstelle von Physik und Philosophie zu erhalten. Die Herausgeber betonen in ihrem Vorwort ausdrücklich, dass es sich bei dem Sammelband nicht um ein Lehrbuch handelt. Die einzelnen Beiträge bauen­ also nicht aufeinander auf, sondern lassen sich unabhängig von­einander lesen, auch wenn es natürlich thematische Schnittmengen gibt. Die Autoren sind ausnahmslos männlich, der Beitrag „Was läuft falsch in der gegenwärtigen Physik?“ von Sabine Hossenfelder ist nicht enthalten. Sie kommen primär aus der theoretischen Physik und Philosophie, mit Ausnahme des Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Vaas und des Physikdidaktikers Oliver Passon. Dessen Beitrag „Lichtteilchen?: Ein Versuch, etwas Licht auf Photonen zu werfen“ hat mir besondere Freude bereitet, denn er führt vor, wie schwierig ein vermeintlich bestens bekannter Begriff („Photon“) zu fassen ist. Passon erzählt eine aufschlussreiche „(Quasi-)Geschichte des Photons“, nach der man die Rede vom „Lichtteilchen“ kritischer sehen wird. Etwas verwunderlich ist, dass ausgerechnet Klaus Hentschels Buch über „Lichtquanten“ (2017) nicht in den Literaturangaben zu finden ist.

Ein anderer origineller Beitrag ist der von Reinhard Werner über „La­borsprache und verborgene Vari­ablen“. Werner wählt einen sprach­kritischen Ansatz, um klassische Missverständnisse der Quantenmechanik zu entlarven. Er plädiert überzeugend dafür, die Quantenmechanik keinesfalls als unverständlich anzusehen, wie es im oft gebrauchten Feynman-Zitat vermeintlich zum Ausdruck kommt.

Ich vermisse insgesamt einen philo­sophiegeschichtlichen Beitrag und eine handlungstheoretische Perspektive, wie ich sie mit dem methodischen Kulturalismus kennengelernt habe. Die experimentelle Praxis im Labor und ihr Wechselspiel mit der Theorie kommen mir zu kurz. Zudem hätte ich mir gemeinsame Sach- und Personenregister gewünscht, wie es früher in ähnlich gelagerten Büchern üblich war, etwa in der Reihe „Grundlagen der exakten Naturwissen­schaften“, die ab 1980 zunächst im Bibliographischen Institut und später im Spektrum Akademischer Verlag erschienen ist. So finde ich den Band „Wieviele Leben hat Schrödingers Katze?“ (1990) immer noch sehr lesenswert.

Der Schwierigkeitsgrad, der philosophische Charakter und die Aktu­alität der Beiträge sind unterschiedlich stark ausgeprägt. Das Buch schlägt aber eine dankenswerte Schneise in die mittlerweile unübersichtliche Literatur zu den Grundlagenfragen von Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Wer sich für das Wechselspiel von Physik und Philosophie interessiert, wird sicher einen eigenen Weg durch das preisgünstige Buch finden. Vieles regt zum Weiterdenken an oder reizt zum Widerspruch. Doch eine kritische Lektüre dürfte wohl erst gelingen, wenn man wenigstens ein paar Semester Physik hinter sich hat.

Alexander Pawlak

*) In der gedruckten Version der Rezension im Heft 11/2023 des Physik Journals wird fälschlicherweise der November genannt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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