18.09.2003

Vorstoß ins Unerkannte. Lexikon großer Naturwissenschaftler

Krafft

Vorstoß ins Unerkannte. Lexikon großer Naturwissenschaftler

Von F. Krafft (Hrsg.).
WILEY-VCH, Weinheim 1999. XI + 474 S., 10 Abb., Broschur,
ISBN 3-527-29656-5

Große Physiker. Von Aristoteles bis Werner Heisenberg
Von C. F. von Weizsäcker. Carl Hanser Verlag, München 1999. 376 S., Gebunden,DM 45,-. ISBN 3-446-18772-3
"Große Naturwissenschaftler", "große Physiker" - solche Titel wecken heute Skepsis. Aus guten Gründen. Führte doch die biographische Perspektive auf "berühmte Männer" oft genug zu einer methodischen Blindheit für die unpersönlichen - und daher oft recht prosaischen - Kräfte und Kontexte, denen die Männer ihre Berühmtheit eben auch verdankten. Nicht, dass soziologische Konzepte immer alles erklären, "Größe" jedoch ist in der heutigen Geschichtswissenschaft überhaupt kein wohldefinierter Begriff. Am wenigsten in der Geschichte der Naturwissenschaft. Dort hat heute sogar der biographische Ansatz als solcher einen Hautgout. Das liegt nicht zuletzt an dem Geniekult, zu dem die "Erfolgsstory" der neuzeitlichen Naturwissenschaft immer wieder verführt. Was Früheren ihre Feldherren oder Dichterfürsten, das sind vielen Zeitgenossen unserer technischen Zivilisation die genialen Forscher. "Genie" jedoch ist ein Begriff, der zwar manches sagt (vor allem über die Wahrnehmung dessen der ihn benutzt), aber nichts erklärt.

Andererseits ist eine fundierte Forscherbiographie sicher am besten geeignet, wissenschaftshistorisch Interessierten ein Grundwissen zu erschließen, das Vorbedingung jeder theoretischen Diskussion sein sollte. Es ist nun mal so, dass Lebensgeschichten sich leicht erzählen und leicht lesen lassen. Genau hier, im Propädeutischen, liegt auch der Wert des "Lexikons großer Naturwissenschaftler", das der Marburger Wissenschaftshistoriker Fritz Krafft nun neu herausgegeben hat. Die Dimensionen sind glücklich gewählt: Von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts werden 340 Naturforscher und Mathematiker in Kurzbiographien vorgestellt, 730 weitere mit Lebensdaten erwähnt. Die durchschnittliche Artikellänge von etwa einer Seite lässt genug Raum für die Zusammenhänge, die Biographien aufzeigen können, ist aber noch kurz genug, um zum enzyklopädischen Bummeln zu verführen. Von Bildern wird der Leser zum Glück völlig verschont.

Schade nur, dass bei der stilistischen Qualität einiger Beiträge Wünsche offen bleiben: Zu oft stolpert man über holperige Bandwurmsätze und gelegentlich verschandeln feierliche Schnörkel die Stilebene. Ein ordentliches Redigieren wäre dem Buch gut bekommen und hätte bei konstanter Seitenzahl ein paar Einträge mehr erlaubt. Getrost könnte man etwa auf die Bemerkung verzichten, Edwin Hubble sei unter den amerikanischen Astronomen "wohl der größte" gewesen - als ob das von der lexikalischen Form erzwungene Forscher-Ranking nicht schon problematisch genug wäre. Denn natürlich ließe sich an der Verteilung der klug dimensionierten Textmenge auf die einzelnen Personen lange herummäkeln. Jeder wird irgend einen seiner Helden oder Heldinnen ungenügend gewürdigt finden oder sogar ganz vermissen. Der Rezensent versteht zum Beispiel nicht, dass Kurt Gödel keinen eigenen Artikel bekommen hat und Pioniere der modernen Kosmologie wie Georges Lemaître nicht einmal erwähnt werden.

Dass es keine restlos objektivierbaren Kriterien für die "Größe" oder auch nur die "Bedeutung" historischer Persönlichkeiten geben kann, weiß natürlich auch Carl Friedrich von Weizsäcker. Von einem Buch seiner Autorschaft mit dem Titel "Große Physiker" erwartet man daher nicht mehr - aber auch nicht weniger - als einen persönlichen, zugleich aber hochreflektierten Blick auf die Physikgeschichte. Wenn diese Erwartung von vorliegendem Band enttäuscht wird, dann liegt das keinesfalls an Qualität oder Niveau der 19 darin versammelten Aufsätze. Für den Weizsäcker-Kenner besteht die Enttäuschung vielmehr darin, dass es sich dabei um nichts als Nachdrucke alter Arbeiten handelt: Ein Beitrag zu einer Festschrift, ein Zeitungsartikel, eine Gifford-Lecture, ein Vorwort zur einer Goethe-Ausgabe, ein Kapitel aus "Die Einheit der Natur", eines aus "Zeit und Wissen" (das bereits dort eine Zweitverwertung war) und so weiter. Alles längst bekannt und teilweise uralt - der Text über Robert Mayer etwa stammt aus dem Jahr 1942! Natürlich ist gegen einen "Weizsäcker-Reader" nichts einzuwenden - vor allem, wenn er für Weizsäckers Denken charakteristische Texte wie die "Philosophische Interpretation der modernen Physik" von 1972 enthält. Doch scheinen hier die Essays eher danach ausgesucht worden zu sein, ob Weizsäcker seine Gedanken darin um "große" naturphilosophische Individuen kreisen läßt, deren Namen als Kapitel überschriften taugen. Das ist kein sinnvolles Auswahlkriterium und so ist das Buch leider nur ein redundantes Sammelsurium aus persönlichen Erinnerungen, allgemeinverständlichen Vorträgen und nicht immer sehr klaren philosophischen Skizzen. Letztere handeln weniger von Aristoteles oder Heisenberg als von Weizsäckers ambitioniertem, aber bis heute Fragment gebliebenem Lebensprojekt einer Rekonstruktion der Physik aus den Möglichkeitsbedingungen naturwissenschaftlicher Erfahrung.

Weizsäcker-Neulinge werden mit dem Buch daher noch weniger anfangen können. Dazu hätte es zumindest einer eigens geschriebenen Einleitung bedurft, welche die Texte in die Entwicklung von Weizsäckers Denken einordnet und in den Zusammenhang zeitgenössischer Entwicklungen in Physik und Philosophie stellt. Die aber fehlt ebenso wie ein Apparat mit Anmerkungen oder ein Literaturverzeichnis. Das Namensregister ist da ein schwacher Trost, zumal man sich dort nicht einmal die Mühe gemacht hat, die vollen Namen von Philipp von Jolly und Nathan Rosen zu recherchieren. Die Lieblosigkeit des Hanser-Verlages gegenüber diesen zwei "kleinen" Physikern ist symptomatisch - und entspricht der Lieblosigkeit gegenüber dem bald 88-jährigen Autor. Nur um ein neues Weizsäcker-Buch im Herbstprogramm zu haben, so scheint es, hat man sich schnell mal aus seinem Lebenswerk bedient und irgendwas zusammengeschustert. Das hat Carl Friedrich von Weizsäcker nicht verdient - und seine Leser erst recht nicht.
Dr. Ulf von Rauchhaupt, Max-Planck-Institutfür Wissenschaftsgeschichte, Berlin

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