06.11.2020

Abstand in Theorie und Praxis

Dichtefunktionaltheoretische Modellierung von Social Distancing belegt schützenden Effekt.

Wie Forscher der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Modell-Simulationen nachweisen konnten, lassen sich die COVID-19-Infektions­zahlen durch „Social Distancing“ deutlich senken. Die Physiker kombinierten dazu die dynamische Dichte­funktional­theorie zur Beschreibung von wechselwirkenden Teilchen und das „SIR-Modell“, eine Theorie zur Beschreibung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. 
 

Abb.: Simulationen basierend auf einem neuen Modell für die Ausbreitung von...
Abb.: Simulationen basierend auf einem neuen Modell für die Ausbreitung von Epidemien, zeigen die Abnahme der Infektions­zahlen durch Social Distancing. (Bild: M. te Vrugt et al. / Springer Nature)

Infolge des weltweiten Ausbruchs der Krankheit COVID-19, verursacht durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2, arbeiten Wissenschaftler weltweit mit Hochdruck an der Erforschung von Infektions­krankheiten. Dies betrifft nicht nur Virologen, sondern auch Physiker, die mathematische Modelle zur Beschreibung der Ausbreitung von Epidemien entwickeln. Solche Modelle sind wichtig, um die Auswirkungen verschiedener Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit – etwa Gesichts­masken, Schließungen von öffentlichen Gebäuden und Geschäften, oder das bekannte Social Distancing, also das Abstandhalten zur Vermeidung von Ansteckungen – zu testen. Diese Modelle dienen oftmals als Grundlage für politische Entscheidungen und stärken die Legitimation ergriffener Maßnahmen.

Michael te Vrugt, Jens Bickmann und Raphael Wittkowski vom Institut für theoretische Physik und Center for Soft Nanoscience der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster haben ein neues Modell zur Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten entwickelt. Die Arbeitsgruppe von Raphael Wittkowski beschäftigt sich mit statistischer Physik. Dabei nutzen die Physiker unter anderem die dynamische Dichte­funktional­theorie (DDFT), eine in den 1990er Jahren entwickelte Methode, welche die Beschreibung von wechsel­wirkenden Teilchen ermöglicht. 

Zu Beginn der Corona-Pandemie kam ihnen die Idee, dass die gleiche Methode zur Beschreibung der Ausbreitung von Krankheiten hilfreich ist. „Menschen, die Social Distancing betreiben – die also versuchen, Abstand voneinander zu halten – kann man sich im Prinzip wie Teilchen vorstellen, die sich gegenseitig abstoßen, weil sie zum Beispiel die gleiche elektrische Ladung haben“, erklärt Erstautor Michael te Vrugt. „Also kann man Theorien, die abstoßende Teilchen beschreiben, vielleicht auch auf voneinander Abstand haltenden Menschen anwenden.“ Basierend auf dieser Idee entwickelten sie das sogenannte „SIR-DDFT-Modell“, welches das SIR-Modell (eine bekannte Theorie zur Beschreibung der Ausbreitung von Infektions­krankheiten) mit DDFT kombiniert. Die resultierende Theorie beschreibt Menschen, die sich gegenseitig anstecken können, die aber auch Abstand voneinander halten. „Sie ermöglicht es zudem, räumliche Hotspots von Infizierten zu beschreiben und damit die Dynamik von sogenannten Super­spreader-Ereignissen, wie dem Karneval in Heinsberg oder Apres-Ski in Ischgl, besser zu verstehen“, ergänzt Mitautor Jens Bickmann.

Das Ausmaß des Social Distancing wird dann durch die Stärke der abstoßenden Wechselwirkung beschrieben. „Dadurch kann man mithilfe der Theorie auch die Auswirkungen von Social Distancing testen, indem man eine Epidemie mit verschiedenen Werten der Parameter, die die Stärke der Wechsel­wirkung beschreiben, simuliert“, erläutert Studienleiter Raphael Wittkowski. Die Simulationen zeigen, dass die Infektionszahlen durch Social Distancing tatsächlich deutlich sinken. Damit reproduziert das Modell den bekannten „Flatten-The-Curve-Effekt“, bei dem die Kurve, die den zeitlichen Verlauf der Anzahl der Erkrankten beschreibt, als eine Folge des Abstand-Haltens deutlich flacher wird. Gegenüber existierenden Theorien hat das neue Modell den Vorteil, dass die Auswirkungen von sozialen Inter­aktionen explizit modelliert werden können. 

WWU / DE
 

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