04.03.2020

Aktive Materie verstehen und kontrollieren

Neue Methoden des Maschinenlernens öffnen verschiedene Optionen.

Verfahren des Maschinenlernens haben durch die Verfügbarkeit von enormen Datenmengen in den vergangenen Jahren einen großen Zuwachs an Anwendungen in vielen Gebieten erfahren: vom Klassifizieren von Objekten, über die Analyse von Zeitreihen bis hin zur Kontrolle von Computer­spielen und Fahrzeugen. In einem aktuellen Review beleuchten Autoren der Universitäten Leipzig und Göteborg den aktuellen Stand der Anwendung und Anwendungs­möglichkeiten des Maschinen­lernens im Bereich der Forschung an aktiven Materialien. 
 

Abb.: Computergenerierte Grafik eines Partikels, wie sie auch für die...
Abb.: Computergenerierte Grafik eines Partikels, wie sie auch für die Experimente zum Maschinen­lernen verwendet wird. Zu sehen ist ein Polymer­partikel mit vielen Gold­nano­partikeln auf der Oberfläche. (Bild: F. Cichos)

Als aktive Materialien bezeichnet man Systeme, die durch die Umwandlung von Energie angetrieben werden. Bestes Beispiel für aktive Materialien sind biologische Systeme vom einzelnen molekularen Motor über Bakterien und Zellen bis hin zu ganzen Organismen, und Schwärmen von Tieren. Aktive Materialien umfassen aber auch künstliche Systeme aus Nano- und Mikropartikeln, die die Funktion von biologischen Systemen imitieren.

Gerade um künstliche intelligente Systeme für künftige Technologien zu bauen, muss man natürliche intelligente Systeme, die teils Millionen Jahre der Evolution durchlaufen haben, erst einmal verstehen. „In der Natur gibt es erstaunliche Beispiele,“ sagt Frank Cichos vom Peter-Debye-Institut für Physik der weichen Materie der Universität Leipzig. Vögel wie der Albatros haben gelernt, atmosphärische Strömungen zum Gleiten zu nutzen. Plankton navigiert in turbulenten Meeres­strömen und Spermien steuern ihre Bewegung aufgrund verrauschter chemischer Signale, die die mikroskopische Welt aktiver Materie bestimmen. 

Vielfach zeigen Tiere ein kollektives Verhalten, sie bilden Schwärme und nutzen Kommunikations­wege, die ihnen blitzschnelle Richtungs­wechsel erlauben. Um solche komplexen Abläufe zu erkennen und zu verstehen, nutzen Wissenschaftler weltweit zunehmend Methoden des maschinellen Lernens, die zu den Werkzeugen im Feld der künstlichen Intelligenz gehören. Welche verschiedenen Ansätze es hier derzeit gibt und für welche Anwendungsfelder sie sich eignen, hat Frank Cichos mit den Kollegen Kristian Gustavsson, Bernhard Mehlig und Giovanni Volpe der Universität Göteborg in Schweden zusammengestellt. Die Autoren zeigen auch, welche Fallstricke zu beachten sind.

Naheliegende Anwendungs­möglichkeiten des Maschinenlernens findet man in der Bildanalyse, also in der Erkennung von Objekten zum Beispiel in Mikroskopie­aufnahmen, ihrer Verfolgung über die Zeit und der Charakterisierung ihrer Bewegungen. Oft werden dazu neuronale Netze mit Trainingsdaten angelernt, die auch künstlich erzeugt werden oder aus zahlreichen Experimenten gewonnen werden können. „Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren, die bereits jetzt in der Forschung an aktiven Materialien eingesetzt werden, ist jedoch viel größer“, so Cichos. Reinforcement Learning – ein Lernen durch Belohnungen – wird zur Erforschung von Navigations­strategien in komplizierten Strömungen eingesetzt und Methoden des Deep Learnings helfen bei der Suche nach einfacheren physikalischen Modellen für die Musterbildung in komplexen Strömungen. Während diese Anwendungen alle auf Computern realisiert werden, gibt es aber auch Ansätze, künstliche aktive Materie als neuronale Netze einzusetzen.

Neben den grundlegenden Erkenntnissen, die über aktive Materie mit Hilfe des Maschinenlernens gewonnen werden können, eröffnen sich auch technologische Anwendungen. Das effiziente Gleiten in Luftströmungen mittels sensorischer Informationen, wie für Vögel untersucht, kann zur Optimierung von Flugzeugen dienen. Das Verständnis kollektiven Verhaltens in Schwärmen könnte für das autonome Fahren von Interesse sein und Navigations­strategien beim aktiven Transport von Medikamenten im menschlichen Körper helfen.

Frank Cichos und seine Arbeitsgruppe molekulare Nanophotonik an der Universität Leipzig beschäftigen sich selbst mit künstlicher aktiver Materie im Mikro- und Nanobereich. Sie stellen künstliche Partikel her, die durch Licht angetrieben werden und untersuchen ihr Verhalten. „Wir wollen unter anderem mikroskopische Partikel erforschen, die ein adaptives kollektives Verhalten zeigen und auf kleinsten Längenskalen lernen“, erläutert Cichos. Dazu setzt die Arbeitsgruppe Verfahren des Reinforcement Learning ein, damit aktive Mikro­partikel ihre Umgebung erforschen lernen. Dabei helfen ihnen auch neuronale Netze für die Erkennung ihrer aktiven Partikel in der optischen Mikroskopie, die vor allem bei vielen unterschiedlichen Partikeln algorithmischen Verfahren überlegen ist.

Aus Sicht der Autoren kann die Erforschung aktiver Materie auch zur Verbesserung der Methodik des maschinellen Lernens beitragen. „Die Forschung an aktiver Materie kann leicht große, qualitativ hochwertige Datensätze über viele Längen- und Zeitskalen durch Experimente und physikalische Modelle generieren. Auf der Basis dieser Daten können neue Modelle für das Maschinen­lernen entwickelt werden“, so Frank Cichos.

Aber nicht alle Fragen der aktiven Materie müssen mit maschinellem Lernen gelöst werden, gibt Cichos zu bedenken. „Bei allem Hype, den es um maschinelles Lernen gibt, muss man auch realistisch einschätzen, ob man ein solches Verfahren wirklich braucht, wenn man das Problem auch mit klassischen Methoden angehen kann.“

U. Leipzig / DE
 

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