22.07.2016

Alles über Moleküle wissen

„Eine irgendwie unwirkliche Natur“ bescheinigte der Chemie-Nobelpreisträger Kenichi Fukui 1977 dem Konzept der Molekülorbitale. Heute lassen sie sich in 3D abbilden.

Moleküle sind für die Eigenschaften von Materialien, Wirkstoffen oder für biologische Vorgänge verantwortlich. Wir kennen bereits weit über eine Million Moleküle, und jeden Tag werden unzählige neue entdeckt oder synthetisiert. Möglichst alles über diese Moleküle zu wissen, ist ein zentrales Anliegen.

Deshalb wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele Methoden entwickelt, mit denen sich Moleküle charakterisieren lassen. Im Fokus des Interesses sind dabei die Elektronen, da sie nicht nur für die optischen und elektronischen Eigenschaften, sondern insbesondere für die chemischen Bindungen verantwortlich sind. Sie bestimmen die Vielfalt der Molekülwelt und die mannigfaltigen Wechselwirkungen der Moleküle.

Elektronen sind in Orbitalen gebunden, wobei die Valenzelektronen für die chemische Bindung verantwortlich sind. In der Chemie werden diese Valenzorbitale gerne stark vereinfacht mit Strichen und Punkten gekennzeichnet. Aber wie realistisch sind solche grob vereinfachten Bilder, wie gut beschreiben sie die Bindungsverhältnisse und die quantenmechanischen Eigenschaften?

Die Theorie beschäftigt sich mit Molekülorbitalen seit 90 Jahren. Ab-initio und semi-empirische Methoden haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu konkreten Vorstellungen über die Energieniveaus und Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen in Molekülen geführt. Heute machen vor allem moderne Dichtefunktional-Methoden Aussagen mit einer Genauigkeit, die experimentell oft nur mit großem Aufwand erreicht werden können.

Dennoch sind Experimente unverzichtbar, nicht nur zur Verifikation theoretischer Ergebnisse, sondern vor allem zur Analyse komplexer Systeme. Unter den zahlreichen hochentwickelten Methoden spielt die auf dem Photoeffekt beruhende Photoelektronen-Spektroskopie eine zentrale Rolle. Mit ihr lassen sich Atom- und Molekülorbitale direkt „spektroskopieren“, das heißt, die Elektronen bezüglich ihrer Energie und ihres Impulses (und eventuell ihres Spins) detailliert vermessen – wie Georg Koller und Kollegen in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit beschreiben.

Abb. Mit der Photoelektronen-Tomographie lassen sich 3D-Bilder der Elektronenorbitale von Molekülen gewinnen.

Die Photoelektronen-Spektroskopie hat eine lange und erfolgreiche Entwicklungsgeschichte. Vor 50 Jahren von Kai Siegbahn im Röntgenbereich und David Turner im UV-Bereich zuerst als Labormessmethode etabliert, hat sie im Laufe der Jahre – vor allem auch mithilfe der Synchrotronstrahlung – sehr viele Beiträge zum Verständnis von Atomen, Molekülen, Festkörpern und sogar Flüssigkeiten geliefert und viele Wissenschaftsbereiche enorm befruchtet.

Allerdings waren die Resultate in der Regel auf die Energie- und Impulsverteilung der Elektronen beschränkt. Ihre Verteilung im Ortsraum, die man anschaulich unter „Molekülorbitalen“ versteht, blieb in der Regel verschlossen oder war nur über indirekte Schlüsse oder Vergleiche mit Rechnungen zugänglich. Für manche Eigenschaften ist aber gerade die örtliche Verteilung der Elektronen von ausschlaggebender Bedeutung.

Unter anderem deshalb hat die Entwicklung der Rastertunnel- und Rasterkraft-Mikroskopie die Oberflächenforschung revolutioniert, denn nun ist es – zumindest bei sehr tiefen Temperaturen – möglich, Elektronenverteilungen von adsorbierten Molekülen oder von Oberflächenzuständen des Festkörpers im Ortsraum „sichtbar“ zu machen.

Die im Artikel von Koller und Kollegen dargestellte, von verschiedenen Autoren „Photoelektronen-Tomographie“ genannte Methode bringt diese Entwicklung einen bedeutenden Schritt weiter. Mit einigen Vereinfachungen gelingt es, die im Impuls- und Energieraum gemessenen Daten in Aufenthaltswahrscheinlichkeiten umzurechnen. Damit erhält man ein visuelles Ortsbild wichtiger Orbitale eines adsorbierten Moleküls. Ein lang gehegter Traum wird Realität.

Dass dieser Ansatz bereits vor über 30 Jahren eingehend diskutiert und wegen der nur beschränkt gültigen Annahmen (beispielsweise Beschreibung des Endzustands als ebene Welle) aufgegeben wurde, schmälert den Erfolg der Wissenschaftler keineswegs, denn wenn man sich der Beschränkungen einer Methode bewusst ist, kann man sie dennoch sehr erfolgreich einsetzen.

Eberhard Umbach, Karlsruhe

Dieser Essay (freier Download) kommentiert den Artikel " Elektronenorbitale in 3D" von Georg Koller (Universität Graz) und Kollegen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Berlin, und dem Forschungszentrum Jülich (Download nur mit Online-Abo) über eine neue Methode, Elektronenorbitale abzubilden. Beide Beiträge sind in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit erschienen.

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