Aquaplaning für Gletscher
Radarmessungen zeigen überraschend wenige Seen unter dem Eisschild der Antarktis.
Forscher des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, haben in einer aufwendigen Antarktis-Expedition mehrere Seen unter dem Recovery-Gletscher überprüft, die zuvor mithilfe von Satelliten entdeckt worden waren. Dabei haben die Forscher jedoch kaum größere Wasseransammlungen gefunden. Dieses Ergebnis überrascht: Bislang hatte die Wissenschaft nämlich angenommen, dass überlaufende Seen unter dem Ostantarktischen Eisschild der Grund sind, warum die Eismassen überhaupt ins Rutschen geraten und sich Eisströme bilden.
Abb.: AWI-Wissenschaftler haben den Recovery-Gletscher von Bord des Forschungsflugzeuges Polar 6 aus großflächig mit dem Radar vermessen. (Bild: D. Steinhage, AWI)
Der Recovery-Gletscher im antarktischen Coatsland ist bislang ein schlafender Riese. Im Schneckentempo von zehn bis 400 Meter pro Jahr transportiert er Eismassen vom Hochplateau des Ostantarktischen Eisschildes hinab Richtung Weddellmeer. Sein Einzugsgebiet reicht dabei vom Filchner-Schelfeis an der Küste rund eintausend Kilometer weit in das Landesinnere und erstreckt sich über eine Fläche fast dreimal so groß wie Deutschland. Beides könnte den Gletscher zu einem gefährlichen Akteur machen, sollte er eines Tages im Zuge des Klimawandels Tempo aufnehmen. Prognosen zufolge wäre er dann jener Strom, über den die Ostantarktis das meiste Eis verlieren würde. Ein Anstieg des weltweiten Meeresspiegels wäre die unmittelbare Folge.
Eine Antwort auf die Frage, warum sich die Eismassen des Recovery-Gletschers überhaupt in Bewegung setzen, ist jedoch nach einer Expedition von AWI-Glaziologen ungewisser als je zuvor. Bislang hatte die Forschergemeinde angenommen, Schmelzwasserseen unter dem Ostantarktischen Eisschild würden den entscheidenden Impuls zur Entstehung des Eisstromes geben. Die Vorstellung war, dass diese Seen gelegentlich überlaufen und dabei einen Gleitfilm entstehen lassen, auf dem das Eis dann rutscht wie ein Auto beim Aquaplaning. Diese Annahme galt vor allem für jene Regionen des Ostantarktischen Eisschildes, in denen Schwerkraft allein nicht ausreicht, um Eis so schnell fließen zu lassen. Dazu zählt auch das Entstehungsgebiet des Recovery-Gletschers.
„Auf Satellitenaufnahmen des Gletschers erkennen wir gerade im oberen Einzugsgebiet viele flache, gleichförmige Bereiche an der Oberfläche. Von ihnen hatte man bisher angenommen, dass sich an der Unterseite des Eispanzers riesige Seen befänden, die den Eisstrom initiieren. Ohne diese Seen, so lautete die Vorstellung, würden Eisströme wie der Recovery-Gletscher gar nicht erst entstehen“, sagt Angelika Humbert, Leiterin der Sektion Glaziologie am AWI. Sie und ihre Kollegen können diese Hypothese nun widerlegen.
In einer aufwendigen Expedition haben die Wissenschaftler im antarktischen Sommer 2013/14 den Recovery-Gletscher von Bord des Forschungsflugzeuges Polar 6 aus großflächig mit dem Radar vermessen. Dessen Daten verraten bis zu einem gewissen Maße, ob der Untergrund unter dem Eisstrom nass oder trocken ist. „Bis zu unserer Expedition waren die Form des Recovery-Gletschers und die Gestalt des Felsbetts darunter weitgehend unbekannt. Einige der weißen Flecken auf der Antarktiskarte können wir nun mit Daten füllen“, sagt Humbert. Die postulierten Wasseransammlungen von der Größe des Bodensees und größer aber haben die Wissenschaftler nicht gefunden, obwohl sie ihre Radardaten auf jedes bekannte See-Merkmal hin untersucht haben.
„Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir zusätzlich Satellitendaten genutzt und die zuvor gefundenen Höhenänderungen, die auf auslaufende Seen schließen lassen, noch einmal überprüft. Wir können die Ergebnisse unserer Kollegen auch reproduzieren und verstehen, warum sie dort Seen vermuten. Wasser aber haben wir an den entsprechenden Stellen nicht nachweisen können“, so die Forscherin. Dass es Unter-Eis-Seen in der Antarktis gibt, weiß man von russischen und britischen Forschungsprojekten am Wostoksee und Ellsworthsee. „Solche Seen sind Ansammlungen von Schmelzwasser, das entsteht, wenn Wärme aus dem Erduntergrund das Eis an seiner Unterseite schmelzen lässt. Das Wasser sammelt sich dann im Laufe von Jahrtausenden in Senken“, erklärt AWI-Glaziologe Thomas Kleiner.
Angesichts ihrer neuen Forschungsergebnisse haben die Forscher jetzt allerdings mehr Fragen als Antworten zur Rolle der Unter-Eis-Seen. „Unsere neuen Ergebnisse zeigen, dass überfließende Seen nicht der auschlaggebende Mechanismus für die Entstehung eines Eisstromes sein können“, sagt Humbert und fügt hinzu. „Gleichzeitig weisen unsere Radar-Untersuchungen Schwächen auf, die uns daran zweifeln lassen, ob diese Methode wirklich geeignet ist, subglaziale Seen im vollen Ausmaß nachzuweisen. Da sich nun aber auch die Oberflächen- und Höhenanalysen als ungeeignet erwiesen haben, bleiben uns eigentlich nur seismische Untersuchungen, um wirklich zu verstehen, warum sich Eisströme in Bewegung setzen.“
Seismische Studien lassen sich allerdings nicht vom Flugzeug aus durchführen und Landexpeditionen in entlegene Regionen wie dem Recovery-Gletscher sind um ein Vielfaches aufwendiger als die ohnehin schon schwierigen Flugzeug-Messkampagnen. Dennoch planen die Forscher eine Folgeexpedition. Im antarktischen Sommer 2020/21 wollen sie dem Recovery-Gletscher mit einer seismischen Traverse unter das Eis schauen. Parallel dazu soll eines der Forschungsflugzeuge den Gletscher mit einem neuen Ultra-Breitband-Eisradar untersuchen. Beide Datensätze zusammen werden dann hoffentlich mehr Aufschluss darüber geben, warum das Eis des Recovery-Gletschers in seinem Entstehungsgebiet zu gleiten beginnt. Erkenntnisse über diese ursächlichen Mechanismen des Gletscherflusses werden dringend gebraucht, um sie in Eis- und Klimamodelle einzubauen und auf diese Weise die Vorhersagegenauigkeit der Modelle zu verbessern.
AWI / JOL