Atombillard mit Röntgenstrahlen
Eine neue Methode für den Blick in das Innere von Molekülen.
Absorption und Emission eines Photons durch ein Atom sind fundamentale Prozesse der Wechselwirkung von Licht mit Materie. Viel seltener finden jedoch auch Prozesse statt, bei denen gleichzeitig mehrere Photonen mit einem Atom wechselwirken. Die Verfügbarkeit von intensiven Laserstrahlen seit den 1960er Jahren führte zur Entwicklung der nichtlinearen Optik, in der solche Prozesse beobachtet und genutzt wurden. Völlig neue Möglichkeiten eröffnen sich, wenn man nichtlineare Optik mit Röntgenstrahlung statt sichtbarem Licht betreibt. Die Nutzung ultrakurzer Röntgenpulse verspricht dabei eine detaillierte Einsicht in die Bewegung der Elektronen und Kerne in Molekülen und Festkörpern.
Es war unter anderem diese Aussicht, die weltweit den Bau von Röntgenlasern auf der Basis großer Teilchenbeschleuniger motiviert hat. Mit der Inbetriebnahme European XFEL im Jahr 2017 ist die Wissenschaft diesem Ziel einen Schritt näher gekommen. Der Fortschritt in der Nutzung nichtlinearer Prozesse mit Röntgenstrahlung zur Erforschung elementarer Prozesse in Materie war in der Praxis jedoch langsamer als erwartet. „In der Regel überdecken die viel stärkeren linearen Prozesse die interessanten nichtlinearen Prozesse“, sagt Ulli Eichmann vom Max-Born-Institut für nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie in Berlin.
Forscher des Max-Born-Instituts, der Universität Uppsala und des European XFEL haben jetzt eine neue Methode entwickelt, um die nichtlinearen Prozesse ohne die störenden linearen Prozesse beobachten zu können. Dazu machte sich das Team den Impuls zunutze, der zwischen Röntgenlicht und Atom ausgetauscht wird. Nach dem Durchkreuzen eines Überschall-Atomstrahls mit dem Röntgenlaserstrahl können die Forscher exklusiv diejenigen Atome identifizieren, bei denen eine stimulierte Ramanstreuung stattgefunden hat – ein fundamentaler nichtlinearer Prozess, bei dem zwei Photonen mit verschiedener Wellenlänge einfallen und zwei Photonen mit längeren Wellenlängen das Atom wieder verlassen.
„Photonen können Impuls an das Atom übertragen – ganz analog wie es beim Stoß zweier Billardkugeln geschieht“, erklärt Eichmann. Beim stimulierten Ramanprozess verlassen die beiden Photonen das Atom in exakt derselben Richtung wie die zwei einfallenden Photonen – das Atom ändert seinen Impuls und damit seine Flugrichtung nicht. Ganz anders bei den ungleich häufigeren linearen Prozessen, bei denen ein Photon zunächst absorbiert wird und später ein anderes Photon emittiert wird. Da das emittierte Photon meist in eine andere Richtung ausgesandt wird, wird das Atom dabei abgelenkt. Durch die Beobachtung der Flugrichtung der Atome konnten die Forscher daher den stimulierten Ramanprozess mit Röntgenstrahlung von den anderen Prozessen eindeutig unterscheiden.
„Die neue Methode eröffnet besondere Möglichkeiten, wenn wir sie zukünftig mit zeitverzögerten Röntgenpulsen verschiedener Wellenlänge verwenden, wie man sie seit Kurzem an Röntgenlasern wie dem European XFEL erzeugen kann“, erklärt Michael Meyer, der an dem europäischen Röntgenlaser forscht. Da Röntgenpulse mit verschiedener Wellenlänge es erlauben, gezielt einzelne Atome in Molekülen zu adressieren, lässt sich so im Detail verfolgen, wie sich die Wellenfunktionen der Elektronen in Molekülen zeitlich entwickeln. Auf lange Sicht hoffen die Wissenschaftler, diese Entwicklung nicht nur beobachten, sondern auch mithilfe maßgeschneiderter Laserpulse beeinflussen zu können.
„Unser Ansatz ermöglicht es, chemische Reaktionen auf atomarer Ebene zukünftig besser zu verstehen und möglicherweise sogar zu beeinflussen“, erläutert Jan-Erik Rubensson von der Universität Uppsala. „Da die Verschiebung von Elektronen der essenzielle Schritt in chemischen und photochemischen Prozessen ist, wie sie zum Beispiel in Batterien und Solarzellen stattfinden, kann unser Ansatz langfristig auch für solche Prozesse neue Aufschlüsse bringen.“
FV Berlin / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
U. Eichmann et al.: Photon-recoil imaging: Expanding the view of nonlinear x-ray physics, Science 369, 1630 (2020); DOI: 10.1126/science.abc2622 - Transiente elektronische Struktur und Nanophysik, Max-Born-Institut für nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie, Berlin
- Dept. of Physics and Astronomy, Uppsala University, Schweden
- European X-Ray Free-Electron Laser Facility, Schenefeld