Atomkerne: Bruchstücke drehen sich erst nach der Spaltung
Experimente zeigen Entstehung des Spin der Fragmente eines gespaltenen Atomkerns.
Eine Reihe von Experimenten am ALTO-Teilchenbeschleuniger im französischen Orsay hat gezeigt, dass die bei der Kernspaltung entstehenden Fragmente ihren Spin erst nach der Spaltung erhalten und nicht vorher, wie bisher in den meisten Theorien angenommen. Ermöglicht wurde dieses Ergebnis durch die „nu-ball“-Kollaboration, in der eine internationale Gruppe von Kernphysikern ein breites Spektrum von Atomen und deren Struktur untersucht. Mit ihren Experimenten haben die Wissenschaftler untersucht, warum sich die bei der Spaltung eines schweren Atomkerns entstehenden Bruchstücke drehen, obwohl sich der ursprüngliche Kern nicht gedreht hat. Dazu gibt es konkurrierende Theorien. Die meisten gehen jedoch davon aus, dass der Spin der Spaltfragmente erzeugt wird, bevor sich der Kern spaltet, was zu einer klaren Korrelation der Spins der beiden Partnerfragmente führen würde.
Um den Mechanismus aufzudecken, der den Fragmentspin erzeugt, führte das Team in der ALTO-Anlage Kernspaltungsreaktionen herbei und maß die Gammastrahlung, die dabei emittiert wurde. Die Forscher buchten von Februar bis Juni 2018 mehr als 1200 Stunden Strahlzeit in dem Teilchenbeschleuniger, um Proben des Uranisotops 238U und des Thoriumisotops 232Th mit einem gepulsten Neutronenstrahl zu beschießen.
Die Daten zeigten, dass der Spin tatsächlich nach der Kernspaltung erzeugt wird. Das belegte die Analyse der gemessenen Gammastrahlen. Die Experimente zeigen auch, dass der durchschnittliche Spin von der Masse des Fragments abhängig ist und die Abhängigkeit der Form eines Sägezahns entspricht. Die beiden Fragmente, die sich in unterschiedlichen Massenverhältnissen aufteilen können, weisen jedoch durchschnittliche Spins auf, die nicht von der Masse ihres Partnerfragments abzuhängen scheinen.
„Was mich wirklich überraschte, war das Fehlen einer signifikanten Abhängigkeit des in einem Fragment beobachteten durchschnittlichen Spins von dem im Partnerfragment geforderten minimalen Spin“, erklärt Jonathan Wilson vom IJC-Labor in Orsay. „Die meisten Theorien, die annehmen, dass Spin vor der Spaltung erzeugt wird, hätten eine starke Korrelation vorhergesagt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Fragmentspin nach der Aufspaltung erzeugt wird. Man kann es sich vorstellen, als wären die Kernfragmente mit einem gedehnten Gummiband verbunden, das irgendwann reißt. Das erzeugt ein Drehmoment.“
Die neuen Erkenntnisse über die Rolle des Drehimpulses bei der Kernspaltung sind wichtig für das grundlegende Verständnis und die theoretische Beschreibung des Spaltungsprozesses. Sie beeinflussen aber auch andere Forschungsgebiete wie die Untersuchung der Struktur neutronenreicher Isotope und der Synthese und Stabilität superschwerer Elemente. Darüber hinaus eröffnet die Studie neue Möglichkeiten für praktische Anwendungsbereiche, wie etwa das Problem der Erhitzung durch Gammastrahlen in Kernreaktoren. Die bei der Kernspaltung emittierte Gammastrahlung und speziell die Gammamultiplizität ist ein wichtiger Parameter für die Berechnung der Erwärmung in Kernreaktoren. Das Forschungsteam konnte die Gammamultiplizität direkt messen, was in Zukunft genauere Berechnungen der Erwärmung in Kernreaktoren ermöglichen wird.
U. Köln / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
J. N. Wilson et al.: Angular momentum generation in nuclear fission´, Nature 590, 566 (2021); DOI: 10.1038/s41586-021-03304-w - ALTO – Accélerateur Linéaire et Tandem à Orsay, Laboratoire de Physique des 2 infinis Irène Joliot-Curie, Orsay, Frankreich
- Institut für Kernphysik, Universität zu Köln