24.08.2009

Ausreichende Vielfalt

Astronomische Inhalte müssen Thema des Physikunterrichts sein, kein eigenständiges Fach.



Physik Journal – Astronomische Inhalte müssen Thema des Physikunterrichts sein, kein eigenständiges Fach.

Immer wieder gibt es Versuche, zusätzliche Fächer in den Pflichtkanon allgemeinbildender Schulen aufzunehmen. So fordert z. B. der VDI ein Fach Technik. Im Internationalen Jahr der Astronomie wird nun auch erneut der Ruf nach einem Fach Astronomie laut. Astronomische Inhalte in die Schule zu bringen, halte ich für ein wichtiges Anliegen, die Forderung nach einem eigenständigen Fach erachte ich dagegen für verfehlt.

Denn dem allgemeinbildenden Schulwesen mangelt es nicht an Fächern – ganz im Gegenteil: Die vorhandene Vielfalt stellt die Wirksamkeit des Systems Schule infrage, wie uns TIMSS und PISA mehrfach vor Augen geführt haben. Man muss sich nur den Schulalltag aus Sicht der Kinder vor Augen halten: eine Stunde Französisch, vielleicht eine Doppelstunde Deutsch, eine Stunde Chemie, dann Sport, Englisch und zum krönenden Abschluss Physik. In der Welt der Erwachsenen mutet sich niemand eine solche Abfolge disparater Anforderungen zu. Schüler aber, die etwa in der Pubertät ganz andere Interessen und Probleme haben, müssen sich damit täglich auseinandersetzen. Die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit hat diese Situation noch verschärft.



Abb.: Meinung von Gerhard Sauer, der von 2000 bis 2004 DPG-Vorstandsmitglied für den Bereich Schule war. Heute ist Sauer Vorstandsmitglied im Verein „Science on Stage Deutschland e. V.“ und betreut das Projekt SINUS für hessische Grundschulen.

Wer neue Fächer einfordert, muss sich dazu äußern, was dafür wegfallen soll. Alle Schulfächer sind für sich betrachtet wohlbegründet. Niemand wird ernsthaft die Stellung von Deutsch oder Mathematik infrage stellen. Im Zeitalter der Globalisierung und eines zusammenwachsenden Europa lässt sich auch die Bedeutung der Fremdsprachen nicht bezweifeln. Ich erwarte, dass meine Enkel zu demokratisch gesinnten Bürgern erzogen werden, und musische Bildung wünsche ich ihnen genauso wie ausreichende Bewegung im Sportunterricht. Wenn die Physiker ein eigenes Fach Astronomie fordern, sollten sie sich darauf einstellen, dass dies am ehesten zu Lasten der Physikstundentafel ginge.
 

Unser Wissen vermehrt sich ständig. Die verfügbare Zeit, innerhalb derer sich Schüler dieses Wissen aneignen sollen, wächst dagegen nicht. Dem Wissenszuwachs und der zunehmenden Differenzierung tragen wir in der Welt der Erwachsenen durch das Prinzip der Arbeitsteilung Rechnung. Das lässt sich aber nicht auf die Schule übertragen, solange wir am Anspruch der Allgemeinbildung festhalten. Ein wenig Flexibilität ist unter dem Stichwort Profilbildung von Schulen möglich. Stundentafeln und Lehrpläne für die Schule zu gestalten bedeutet aber immer, vieles wegzulassen, auch wenn es wichtig erscheint. Guter Unterricht baut daher an exemplarisch ausgewählten Inhalten umfassende Kompetenzen auf, die unsere Kinder fit für ihr späteres Leben machen.

Astronomische Inhalte können sehr wohl im naturwissenschaftlichen Unterricht ihren Platz und ihren angemessenen Stellenwert finden. Beispiele dafür finden sich in der Studie der DPG zur Lehrerausbildung, z. B. mit dem Themenbereich Gravitation, Kosmos, Teilchen. Manche Themenbereiche schließen sehr gut an den klassischen Physikkanon an, einige überschreiten traditionelle Grenzen von wissenschaftlichen Disziplinen. In diesem Kontext können astronomische Inhalte den naturwissenschaftlichen Unterricht enorm bereichern, zumal das natürliche Interesse junger Menschen an der Welt außerhalb des Planeten Erde außer Frage steht. Natürlich muss sich die Physiklehrerausbildung auch solchen Themen zuwenden.
 

Die Forderung nach neuen eigenständigen Schulfächern wirft eine ganze Reihe struktureller Probleme auf. Nehmen wir das Beispiel Astronomie in der ehemaligen DDR. Das Fach wurde einstündig unterrichtet. Auf ein vierzügiges Gymnasium bezogen sind das nur vier Lehrerstunden, also etwa 0,15 Lehrerstellen pro Schule! Ein solch niedriger Stellenanteil ist für eine Schule keine Basis für die Planung der Unterrichtsversorgung, und er lässt auch schwerlich eine eigenständige, teure Lehrerausbildung an den Universitäten begründen. Ein Astronomielehramt könnte für die Lehramtskandidaten höchstens eine Art „drittes Fach“ darstellen, aber wo sollen die ECTS-Punkte dafür herkommen?
 

Die Lösung kann daher nur sein, astronomische Inhalte verstärkt in den naturwissenschaftlichen Unterricht einzubeziehen und zugleich auch in die Lehrerausbildung der naturwissenschaftlichen Lehramtsstudiengänge zu integrieren, ohne aber den Fächerkanon im allgemeinbildenden Schulwesen weiter auszuweiten! Die DPG kann dieses Anliegen unterstützen, indem sie mehr Lehrerfortbildungen mit astronomischen und astrophysikalischen Inhalten ausrichtet.


Gerhard Sauer

Quelle: Physik Journal, August/September 2009, S. 3


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 AH/KP

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