Berechnete Wege zum optimalen Glas
Neues Verfahren soll zu Glaswerkstoffen mit maßgeschneiderten Eigenschaften führen.
Glas lässt sich in nahezu unbegrenzter Vielfalt aus Mischungen beinahe aller Elemente des Periodensystems herstellen. Einzige Voraussetzung ist, dass sich die Bestandteile gemeinsam schmelzen lassen und die Schmelze danach schnell genug abgekühlt wird. Dabei erstarrt das flüssige Gemisch und bildet ein Glas. „Glas ist also eine eingefrorene Flüssigkeit“, veranschaulicht Lothar Wondraczek von der Universität Jena. So groß die Vielfalt in der Zusammensetzung, so vielfältig sind auch die Eigenschaften der resultierenden Gläser.
Für die Materialwissenschaft ist das jedoch ein Problem, denn anders als kristalline Materialien besitzt Glas keine geordnete innere Struktur. Stattdessen bleiben seine atomaren Bestandteile nach dem Abkühlen mehr oder weniger so angeordnet, wie sie auch im flüssigen Zustand vorlagen. In dieser korrelierten Unordnung gibt es zwar grundsätzlich keine wiederkehrende, periodische Anordnung der Atome, aber doch eben auch keine reine Zufälligkeit. Stattdessen existieren bestimmte Bauregeln und Zusammenhänge, die sich aus der Interaktion der Bestandteile miteinander ergeben.
„Um chemische Rezepte für Gläser mit angepassten Eigenschaften zu finden, sind oftmals langwierige und experimentell aufwendige Optimierungsprozesse notwendig“, sagt Wondraczek. „Eine besondere Herausforderung ist es also, genau diejenigen Bauregeln und chemischen Zusammenhänge zu finden, die für eine bestimmte Eigenschaft oder Eigenschaftskombination von Bedeutung sind.“ So kann das Zusammenspiel bestimmter chemischer Komponenten zum Beispiel zur Verbesserung der mechanischen Festigkeit führen. Soll das Glas aber beispielsweise für Batterieanwendungen auch eine festgelegte Ionenleitfähigkeit aufweisen, könnten gänzlich andere chemische Zusammenhänge relevant sein. Aktuell haben die Forschenden um Lothar Wondraczek nun ein Verfahren vorgestellt, welches die Suche nach solchen korrelierten Abhängigkeiten zukünftig deutlich schneller und effizienter machen kann. Sie erhoffen sich davon neue Wege zu Glaswerkstoffen mit optimierten Eigenschaften.
Die den Eigenschaften zugrundeliegenden struktur-chemischen Zusammenhänge werden als „Gene“ bezeichnet; die Gesamtheit aller Eigenschaften eines Werkstoffs ergibt sich demnach aus seinem „Genom“. Exemplarisch haben sich die Jenaer Forschenden die Leitfähigkeit für Natriumionen zum Ziel gesetzt. Für diese soll in polyionischen Gläsern ergründet werden, welche Kombinationen chemischer Komponenten ursächlich für die praktisch erreichbare Leitfähigkeit sind. Solche ionenleitenden Gläser können zum Beispiel in Festkörperbatterien Anwendung finden. „Zunächst benötigen wir dafür einen ausreichend großen und verlässlichen Satz aus experimentellen Daten, welchen wir dann mit Methoden der Genomanalyse untersuchen können“, sagt Zhiwen Pan.
Das untersuchte polyionische Glas besteht aus einer Kombination von Oxiden, Fluoriden, Sulfaten, Phosphaten und Chloriden. Die beobachtbaren Materialeigenschaften ergeben sich aus Interaktionen dieser Vielzahl an chemischen Komponenten. Aufgrund der Komplexität sind Aussagen zur Struktur und räumlichen Anordnung der Grundelemente jedoch nur sehr begrenzt möglich, so dass resultierende Eigenschaften kaum vorhersagbar sind. Statt aufwendiger Laborversuche können optimale Zusammensetzungen nun mithilfe analytischer Modelle identifiziert werden. „Wir konnten außerdem zeigen, dass die gefundenen „Gene“ nun sehr gut zu dem Wenigen passen, was wir aus spektroskopischen Untersuchungen über die Struktur dieser Gläser wissen“, sagt Wondraczek.
U. Jena / JOL