17.04.2009

Berechneter Kristall

Die Wärmekapazität von Aluminiumkristallen nahe dem Schmelzpunkt lässt sich jetzt genauer berechnen als messen



Die Wärmekapazität von Aluminiumkristallen nahe dem Schmelzpunkt lässt sich jetzt genauer berechnen als messen.

Die Materialwissenschaftler haben es mit einer schier unerschöpflichen Fülle von technisch nutzbaren kristallinen Substanzen zu tun, deren physikalische Eigenschaften sie möglichst genau bestimmen müssen. Doch oft gestalten sich experimentelle Messungen sehr schwierig und ergeben stark streuende Resultate, die wiederum von den Ergebnissen der Modellrechnungen abweichen. Das ist etwa bei der Wärmekapazität von kristallinem Aluminium knapp unterhalb des Schmelzpunktes der Fall. Hier haben die Messungen der letzten 40 Jahre und zahlreiche Computerberechnungen ein widersprüchliches Bild ergeben. Ein neues Berechnungsverfahren schafft jetzt Abhilfe und löst zugleich ein von Max Born aufgeworfenes Problem.

Jörg Neugebauer und seine Mitarbeiter vom MPI für Eisenforschung in Düsseldorf haben ein ab initio-Verfahren entwickelt, mit dem sie die freie Energie F(V,T) für Aluminium berechnen können, wobei die Rechengenauigkeit besser als 1 meV pro Atom ist. Daraus haben sie u. a. den Wärmeausdehnungskoeffizienten und die Wärmekapazität ermittelt. Das Verfahren berücksichtigt die unterschiedlichen Vorgänge, die in einem heißen, beinahe schmelzenden Kristall ablaufen, in dem sich die Atome heftig bewegen. Neben den „normalen“ harmonischen Schwingungen der Atome um ihre ursprünglichen Ruhelagen sind das vor allem quasi- und anharmonische Schwingungen sowie das Auftreten und die Bewegungen von Fehlstellen im Kristall.

In der quasiharmonischen Näherung schwingen die Atome zwar noch harmonisch, doch um veränderte Ruhelagen. Die Rückstellkräfte hängen dabei von der Temperatur ab. Schwingen die Atome noch stärker, so werden die Rückstellkräfte anharmonisch. Schließlich verlassen die ersten Atome ihre Gitterplätze und es treten umherwandernde Fehlstellen auf. Bei weiterer Temperaturerhöhung nehmen die Fehlstellen überhand und der Kristall schmilzt.

Max Born hatte schon 1921 die Frage aufgeworfen, wie die zusätzlichen Freiheitsgrade eines heißen Kristalls (z. B. anharmonische Schwingungen und Fehlstellen) zu seiner Wärmekapazität beitragen. Messungen hatten nämlich ergeben, dass die Wärmekapazität vieler kristalliner Substanzen bei hohen Temperaturen merklich den Wert übertraf, den sie nach der Quantentheorie des idealen harmonischen Kristalls haben sollten. Das Gesetz von Dulong und Petit, wonach Cv mit wachsender Temperatur gegen 3R geht (R ist die Gaskonstante), war also verletzt. Eine wirklich zufriedenstellende Erklärung dafür fehlt noch immer.

Die Berechnungen von Neugebauer und seinen Mitarbeitern geben nun eine erste Antwort auf  Borns Problem. Es zeigte sich, dass das quasiharmonische Verhalten des modellierten Aluminiumkristalls seine thermischen Eigenschaften dominiert. Erst an zweiter Stelle kommen die Beiträge der anharmonischen Schwingungen und der Gitterfehlstellen. Überraschender Weise verringern die anharmonischen Schwingungen die Wärmekapazität des Kristalls. Erst der positive Beitrag der Fehlstellen führt dazu, dass die Wärmekapazität deutlich über den idealen Wert 3R hinaus zunimmt.

Das neue Rechenverfahren ist so optimiert, dass es auch ohne Supercomputer in vertretbarer Zeit zu guten Resultaten kommt. Die Forscher sind zuversichtlich, ihr Verfahren auch auf kompliziertere Kristalle anwenden zu können, für die möglicherweise noch gar keine experimentellen Daten von vergleichbarer Genauigkeit vorliegen.

RAINER SCHARF


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