Bismut schert aus der Reihe
Asymmetrische Elektronenverteilung im Schwermetall passt nicht zu gängigen Modellen freier Elektronen in Metallen.
Auch einfache Materialien halten für Physiker immer wieder Überraschungen bereit. So haben Forscher des Dresdener Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe im Metall Bismut eine elektronische Eigenschaft beobachtet, die sie nur bei deutlich komplexeren Materialien erwarteten. Denn im Bismut verhalten sich die Elektronen anders als die freien Elektronen in einfachen Metallen: Je nach der Richtung, in der sie sich durch den Kristall bewegen, kommen sie mal leichter und mal schwerer voran, weil ihre Energieverteilung von der Perspektive abhängt. Das ist in etwa so wie in einem Gebirge, in dem ein Wanderer auf einer Route viele hohe Gipfel überwinden muss, auf einer anderen dagegen nur auf wenige Berge trifft.
Abb.: Elektronengebirge im Bismutkristall: Die Reliefkarte zeigt die Energieverteilung der Elektronen, abhängig von der Stärke des Magnetfeldes und des Kippwinkels der Probe. (Bild: CPFS)
Andere Metalle ähneln in diesem Bild eher einer Ebene, die sich in allen Richtungen gleich präsentiert. In Bismut gibt es in dem Energiegebirge drei sogenannte Täler, in denen sich die Elektronen ansammeln können. Überraschender Weise verteilen sich die Elektronen aber ungleich auf diese energetisch gleichen Täler. Die ungewöhnliche Energieverteilung haben die Wissenschaftler mit einem von ihnen selbst entwickelten, sehr empfindlichen Messgerät für die Längenausdehnung einer Probe entdeckt. Auf diese Weise ließe sich auch die elektronische Energieverteilung in Materialien untersuchen, die für eine völlig neue Art der Elektronik interessant sind.
Bei manchen Phasenübergängen bleibt ein Material zwar fest, seine Kristallstruktur dehnt sich aber aus oder zieht sich zusammen, etwa wenn ein äußeres Magnetfeld die Substanz magnetisiert. Allerdings ändern sich die Abmessungen einer Probe dabei nahezu unmerklich, wenn man solche Übergänge fast am Nullpunkt der Temperatur, also etwa bei minus 273 Grad Celsius untersucht. Genau in diesem Temperaturbereich arbeiten die Physiker am Max-Plack-Institut für Chemische Physik fester Stoffe für gewöhnlich, weil viele Phänomene nur bei derart tiefen Temperaturen auftreten. Um unter diesen Bedingungen zu messen, wie stark ein Kristall sich ausdehnt oder schrumpft, benötigt man ein sehr empfindliches Messgerät. Genau das hat Robert Küchler in seiner Arbeit am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe entwickelt. Und damit hat ein deutsch-französisches Team um Robert Kuechler und Lucia Steinke, die ebenfalls am Dresdener Max-Planck-Institut forscht, nun im Metall Bismut eine Beobachtung gemacht, die sie einigermaßen überrascht hat.
Die Physiker haben an einen Bismut-Kristall mit zwei Mal acht Millimetern Grundfläche in verschiedenen Richtungen ein Magnetfeld angelegt, das sie allmählich erhöhten. Wenn die magnetische Feldstärke steigt, ordnen sich die für den Ladungstransport verantwortlichen Elektronen um. Das hat zur Folge, dass sich das Volumen des Metalls etwas ändert und die Probe sich abwechselnd ausdehnt oder zusammenzieht.
Abb.: Messgerät für extreme Dimensionen: Die Thermische-Expansions-Zelle ermöglicht es, bei Temperaturen zwischen Raumtemperatur und minus 273,1 Grad Celsius Längenveränderungen von ungefähr einem tausendstel Nanometer zu messen. Eine Probe wird dabei in einer Messzelle eingespannt, deren elektrische Kapazität sich ändert, wenn sich die Probe ausdehnt oder zusammenzieht. (Bild: CPFS)
Mit einem extrem empfindlichen Dilatometer, das die Ausdehnung einer Probe misst, bestimmten die Forscher die winzigen Änderungen der Länge bei den verschiedenen Orientierungen des Magnetfeldes. Von der Längenänderung der Probe schlossen sie dann auf Änderungen der Elektronenverteilung in der jeweiligen Richtung des Magnetfeldes und zeichneten von dieser eine Art Reliefkarte. „Wir haben diese Reliefkarte von Bismut, die zeigt, wie sich die Elektronenstruktur mit dem Magnetfeld ändert, genauer ausgemessen, als das mit anderen Methoden bisher möglich war“, sagt Robert Küchler.
In Bismut gibt es in der Energiestruktur drei identische Minima. Ähnlich verteilen sich Elektronen auch in anderen Materialien, wie etwa dem Halbleiter Silizium, auf verschiedene Täler. Im Silizium äußert sich diese Energieverteilung der Elektronen in genau den Eigenschaften, die das Material für die Chipindustrie so interessant macht.
In einem reinen Bismutkristall würden Physiker erwarten, dass sich wie im Silizium in den energetisch gleichen Tälern gleich viele Elektronen finden. „Überraschenderweise verteilen sich die Elektronen in Bismut aber nicht komplett gleichmäßig auf die drei Täler“, erläutert Lucia Steinke. „Bei bestimmten Magnetfeldern werden die Täler unterschiedlich gefüllt oder entleert, sodass sich in der Reliefkarte deutliche Asymmetrien ergeben.“
Dass sich Elektronen in augenscheinlich identischen Tälern unterschiedlich verhalten, erwarten Physiker eigentlich für komplexere Materialien wie etwa Keramiken, die wie eine Schichttorte aufgebaut sind. Derzeit können die Dresdner Forscher noch nicht endgültig erklären, warum sich auch Bismut so verhält. Aber sie haben bereits einen Verdacht. Denn möglicherweise interagieren die Elektronen des Bismuts stärker miteinander als die Ladungsträger gewöhnlicher Metalle. Das würde bedeuten, dass die Vorstellung, die Physiker von der elektronischen Ordnung in Metallen haben, im Bismut nicht mehr greift.
Das gängige Modell betrachtet die Elektronen, die in Metallen für Glanz und Stromtransport sorgen, als einen See. Der See dieser Leitungselektronen umspült die Atomrümpfe. Jedes einzelne Elektron sieht in dieser Vorstellung nur ein elektrostatisches Feld, das sich aus der Mittelung über die anderen negativen Ladungsträger in dem See und die positiv geladenen Atomrümpfe ergibt. „Diese näherungsweise Beschreibung gilt für Bismut offenbar nicht, weil sich manche seiner Elektronen untereinander stärker wahrnehmen, als das Modell von Metallen vorsieht“, sagt Robert Küchler. Auch darin ähnelt das Metall also eher komplexen Materialien, wie etwa manchen Keramiken.
Die Entdeckung der ungewöhnlichen Eigenschaften von Bismut-Elektronen ist aber nicht die einzige neue Erkenntnis. „Wir haben gezeigt, dass sich unser sehr empfindliches Dilatometer auch eignet, um die elektronische Struktur von Materialien zu untersuchen“, sagt Robert Küchler, der das Präzisionsgerät inzwischen auch in einem Spin-off-Unternehmen vermarktet. So lässt sich damit etwa die elektronische Energieverteilung in Materialien untersuchen, bei denen sich die Verteilung der Elektronen auf die Täler wie beim Bismut mit der Perspektive ändert, sich zudem aber willkürlich manipulieren lässt. Solche Stoffe könnten für eine völlig neue Art der Elektronik interessant sein: die Valleytronic.
In der Valleytronic könnten der 0 und 1 eines Datenbits zwei verschiedene Verteilungen der Elektronen auf die Täler zugeordnet sein. Bei Rechnungen würden die Elektronen dann zwischen verschiedenen Tälern hin und her geschoben. Das besondere an den elektronischen Tälern als Rechenmittel: Sie könnten als Quantenbits dienen, aus denen sich Überlagerungszustände erzeugen lassen. Bis es soweit ist, wird allerdings sicher noch einige Zeit vergehen. Das besonders präzise Dilatometer der Dresdner Wissenschaftler und ihre Forschung an Materialien mit ungewöhnlichen elektronischen Materialien könnten aber helfen, ein paar Hürden auf dem Weg zur Valleytronic zu nehmen.
CPFS / DE