30.05.2013

Blick auf Bugwellen mit Google Earth

Für schnell fahrende Schiffe wurde jetzt die über 120 Jahre alte Kelvin-Theorie des Öffnungswinkels korrigiert.

Schiffe erzeugen bei ihrer Fahrt ein kompliziertes Wellenmuster auf der Wasseroberfläche, für das William Thomson, der spätere Lord Kelvin, schon 1887 eine Theorie aufgestellt hatte. Nach dieser hat die keilförmige Bugwelle einen Öffnungswinkel von 39 Grad, der somit nicht von der Geschwindigkeit des Schiffes abhängt. Für hinreichend schnell fahrende Schiffe treten allerdings Abweichungen von diesem Kelvin-Winkel auf: Es zeigt sich ein geschwindigkeitsabhängiger Mach-Winkel, wie französische Forscher herausgefunden haben.

Abb.: Während die Bugwelle eines Frachtschiffes (a) unter dem Kelvin-Winkel von knapp 20 Grad gegen die Fahrtrichtung geneigt war, verlief sie bei einem Schnellboot (b) unter einem Winkel von nur 9 Grad. (Bild: M. Rabaud & F. Moisy, Phys. Rev. Lett.)

Marc Rabaud and Frédéric Moisy von der der Université Paris-Sud haben zunächst die Kelvin-Theorie eingehend überprüft. Dazu haben sie bei Google Earth auf hochauflösenden Satellitenaufnahmen von Hafeneinfahrten nach den Bugwellen von Schiffen gesucht. Große Schiffe, die nicht zu schnell fuhren, hatten tatsächlich eine keilförmige Bugwelle mit einem Öffnungswinkel von 39 Grad.

Anhand der Wellenlänge der im Kielwasser auftretenden Wellen und ihrem Neigungswinkel gegen die Bahn des Schiffes ließ sich die Fahrtgeschwindigkeit ermitteln. Für sehr schnell fahrende Schiffe wurde der Keil der Bugwelle immer spitzer und sein Öffnungswinkel 2 α nahm in einer Weise ab, wie man es vom Winkel des Machschen Schallkegels her kennt: tan(α) = cg/v, mit der Gruppengeschwindigkeit cg der Schwerewellen auf der Wasseroberfläche und der Geschwindigkeit v des Schiffes.

Durch Analyse der Kelvin-Theorie konnten die Forscher deren Gültigkeitsgrenzen aufzeigen und den Übergang vom konstanten Kelvin-Winkel zum geschwindigkeitsabhängigen Mach-Winkel erklären. Im Gegensatz zum Mach-Kegel eines mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Projektils ist das Kielwasser eines Schiffes viel komplizierter aufgebaut. Das liegt vor allem daran, dass die Schwerewellen des Wassers eine Dispersion aufweisen. Ihre Phasengeschwindigkeit hängt von der Wellenlänge ab, was bei Schallwellen praktisch nicht der Fall ist.

Eine Schwerewelle breitet sich umso schneller aus, je größer ihre Wellenlänge oder je kleiner ihre Wellenzahl k ist. Die Phasengeschwindigkeit für Schwerewellen in tiefem Wasser cp = √g/k (mit der Schwerebeschleunigung g) ist exakt doppelt so groß wie die Gruppengeschwindigkeit cg. Die je nach ihrer Wellenzahl k unterschiedlich schnell vorankommenden Wellen müssen sich relativ zum Schiff in unterschiedliche Richtungen ausbreiten, damit das entstehende Wellenmuster sich stationär mit dem Schiff bewegen kann.

Abb.: Der Neigungswinkel α der Bugwelle aufgetragen gegen die Froude-Zahl Fr = v/√gL, welche die kritische Wellenlänge der Schwerewellen mit der Länge des Schiffes vergleicht; für relativ lange oder langsame Schiffe ist der Winkel konstant, für relativ kurze oder schnelle nimmt er mit wachsendem Fr ab. (Bild: M. Rabaud & F. Moisy, Phys. Rev. Lett.)

Wie Kelvins Berechnungen gezeigt hatten, können zu dem stationären Wellenmuster nur solche Wellen beitragen, deren Wellenzahl k größer ist als ein kritisches kg = g/v2. Für jedes kkg bildet sich eine „Partial-Bugwelle“ mit einem k-abhängigen Öffnungswinkel 2 α(k). Der größte Winkel tritt für k = kg auf und hat den Wert 19,47 Grad. Das Doppelte dieses Winkels, also knapp 39 Grad, ist der Öffnungswinkel der am weitesten geöffneten Partial-Bugwelle. Er wird deshalb als Öffnungswinkel der gesamten Bugwelle wahrgenommen.

Diese Herleitung des Kelvin-Winkels setzt allerdings voraus, dass tatsächlich auch alle Wellen mit den „erlaubten“ k-Werten kkg entstehen können. Zu kg gehört eine kritische Wellenlänge λg = 2 π v2/g. Dies ist die Wellenlänge der Schwerewellen, die sich mit der Geschwindigkeit v des Schiffes ausbreiten. Somit können nur solche Wellen zur Bugwelle eines Schiffes beitragen, die λg nicht übertreffen. Hat das Schiff die Länge L, so erwartet man, dass es nur Wellen erzeugen kann, deren Wellenlängen kleiner (oder zumindest nicht viel größer) als L sind. Ist L wiederum deutlich kleiner als λg, so kann das Schiff nicht mehr alle „erlaubten“ Wellen mit kkg erzeugen, sondern nur noch die mit k ≥ 2 π/L > kg. Das Maximum des Winkels α(k) wird somit für einen eingeschränkten Bereich von k-Werten ermittelt. Dies hat zur Folge, dass der Öffnungswinkel der Bugwelle kleiner ausfällt als der Kelvin-Winkel.

Je schneller ein Schiff fährt, umso größer wird λg, bis es schließlich L übertrifft, woraufhin der Öffnungswinkel der Bugwelle zu schrumpfen beginnt. Für hinreichend große Geschwindigkeit v verhält sich der Öffnungswinkel dann etwa wie cg/v, so wie man es vom Mach-Kegel her kennt. Die beiden französischen Forscher haben ihre theoretischen Vorhersagen, die mit den Google-Earth-Daten gut übereinstimmten, zudem mit numerischen Berechnungen bestätigt.

Kelvins ehrwürdige Theorie hat sich somit als verbesserungsfähig erwiesen. Wie die Bugwellen von kleineren schwimmenden Objekten, beispielsweise Enten oder Insekten, aussehen, bei denen neben Schwerewellen auch Kapillarwellen eine Rolle spielen, sollen weitere Untersuchungen aufklären.

Rainer Scharf

PH

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