Das arme Herz der Milchstraße
Astronomen identifizieren Zeugen der frühesten Geschichte der Galaxis.
Die Geschichte der Milchstraße erstreckt sich über etwa 13 Milliarden Jahre – entsprechend fast der gesamten Geschichte des Universums. In den vergangenen Jahrzehnten ist es Astronomen gelungen, verschiedene Epochen der galaktischen Geschichte zu rekonstruieren. Die Grundbausteine einer Galaxie sind ihre Sterne. Für eine kleine Untergruppe von Sternen können Astronomen genau bestimmen, wie alt sie sind. Das gilt zum Beispiel für Unterriesen, eine kurze Phase der Sternentwicklung, in der man anhand der Helligkeit und Temperatur eines Sterns auf sein Alter schließen kann.
Allgemeiner gibt es für fast alle Sterne einen Parameter, der zumindest ungefähre Rückschlüsse auf das Alter erlaubt: die Metallizität eines Sterns, definiert als die Menge an chemischen Elementen schwerer als Helium in der Atmosphäre des Sterns. Solche Elemente, die in der Sprechweise der Astronomie „Metalle“ heißen, entstehen im Sterninneren durch Kernfusion und werden kurz vor oder am Ende des Lebens eines Sterns freigesetzt. Für leichtere Elemente ist das der Fall, wenn die Außenregionen eines massearmen Sterns in den Weltraum hinaus driften, für schwerere Elemente nur dann, wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert und einen beachtlichen Teil seiner Materie ins All schleudert. Solche Prozesse reichern das interstellare Gas mit schwereren Elementen an, und aus jenem Gas entsteht dann die nächste Generation von Sternen – jede Generation mit einer höheren Metallizität als die vorigen.
Was die großräumigen Strukturen anbelangt, so ist eine Galaxie natürlich nicht statisch, denn Sterne bewegen sich. Aber gerade die Bewegungsmuster der Sterne enthalten aufschlussreiche Informationen. In der Milchstraße kann die Bewegung von Sternen zum Beispiel auf die zentralen Regionen beschränkt sein. Oder sie kann Teil der geordneten Rotation der Sterne in der Scheibe sein. Alternativ können Sternbahnen Teil des chaotischen Wirrwarrs von Bahnen in dem ausgedehnten Halo der Galaxis sein – einschließlich extrem langgestreckter Bahnen, die Sterne immer wieder von den innersten zu den äußersten Regionen führen und wieder zurück.
Die Geschichte von Galaxien wird durch Verschmelzungen und Kollisionen geprägt sowie durch große Mengen an frischem Wasserstoffgas, das über Milliarden hinweg von außen in eine Galaxie einströmen kann – das Rohmaterial, aus dem sich neue Sterne bilden. Ganz am Anfang der Geschichte einer Galaxie stehen dabei kleineren Proto-Galaxien: Raumregionen mit einer höheren als der durchschnittlichen Massendichte, in denen bereits vergleichsweise kurz nach dem Urknall Gaswolken kollabieren und Sterne bilden.
Stoßen solche Proto-Galaxien zusammen und verschmelzen miteinander, bildet sich eine größere Galaxie. Fügt man diesen etwas größeren Gebilden später noch eine weitere Proto-Galaxie hinzu, dann kann folgendes passieren: Fliegt jene weitere Proto-Galaxie nicht exakt auf das Zentrum ihres Kollisionspartners zu, sondern hinreichend weit seitlich versetzt, dann kann bei der Kollision rund um die ursprüngliche Galaxie eine Scheibe mit Sternen entstehen. Verschmelzen dagegen zwei bereits ausreichend große Galaxien, heizen sich ihre Gasreservoirs auf und bilden letztlich eine komplizierte elliptische Galaxie, mit einem komplexen Muster von Umlaufbahnen für die vorhandenen älteren Sterne aber so gut wie keiner neuen Sternentstehung.
Entsprechende Geschichten von Galaxien lassen sich mit einer Kombination aus Beobachtungen und Simulationen rekonstruieren. Und während die hier geschilderten Entwicklungsmöglichkeiten in groben Zügen bereits seit einigen Jahrzehnten bekannt sind, haben sich die Einzelheiten erst in jüngster Zeit herauskristallisiert – zum großen Teil dank einer Reihe von Durchmusterungen, die bessere und umfassendere Daten geliefert haben als zuvor verfügbar waren. Unsere Milchstraße spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Sie ist diejenige Galaxie, deren Sterne wir am besten und detailliertesten untersuchen können. Eine Untersuchung der Geschichte unserer Heimatgalaxie, mit anderen Worten: galaktische Archäologie, ermöglicht es uns nicht nur, einen Teil unserer eigenen Geschichte zu rekonstruieren. Sie liefert uns auch Erkenntnisse über die Entwicklung von Galaxien im Allgemeinen.
Im Frühjahr 2022 hatten Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix vom MPI für Astronomie Daten des ESA-Satelliten Gaia und der Spektraldurchmusterung LAMOST genutzt, um das Alter von Sternen für eine beispiellos umfangreicher Stichprobe von 250.000 Unterriesen zu bestimmen. Anhand dieser Analyse konnten die Astronomen die bewegte Jugend der Milchstraße vor elf Milliarden Jahren ebenso rekonstruieren wie ihr anschließendes eher ruhiges Erwachsenendasein.
Was Xiang und Rix dabei allerdings auffiel war, dass die ältesten Sterne aus jener Jugendzeit bereits eine nicht allzu kleine Metallizität aufwiesen, nämlich etwa zehn Prozent der heutigen Metallizität unserer Sonne. Offensichtlich musste es vor der Entstehung jener Sterne noch frühere Generationen von Sternen gegeben haben, die das interstellare Medium bei ihrem Ableben bereits mit schweren Elementen „verschmutzt“ hatten.
Die Existenz solcher früheren Sterngenerationen wiederum war keine Überraschung, denn genau solche früheren Generationen von Sternen zeigen auch aufwändige Simulationen der kosmischen Geschichte. Jene Simulationen sagen außerdem voraus, wo sich heute noch Vertreter jener früheren Sterngenerationen finden lassen sollten. Konkret liefern die Simulationen für die Anfänge der Milchstraße Szenarien mit drei oder vier Proto-Galaxien, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gebildet hatten, anschließend miteinander verschmolzen, und deren Sterne sich zu einem vergleichsweise kompakten Gebilde mit einem Durchmesser von nicht mehr als ein paar tausend Lichtjahren zusammenfanden.
Dass später noch weitere Galaxien mit jener ursprünglichen Milchstraße verschmolzen, führte zur Entstehung weiterer Strukturen, insbesondere der Scheibenstruktur und des Halos. Aber die Simulationen legen nahe, dass ein Teil des ursprünglichen Kerns relativ unversehrt überlebte. Demnach sollte es möglich sein, Sterne aus dem anfänglichen kompakten Kern, dem „armen Herz der Milchstraße“, auch heute noch in und nahe den Zentralregionen unserer Galaxie zu finden.
An diesem Punkt begann sich Rix konkrete Gedanken zu machen, wie sich tatsächlich Sterne aus dem alten Kern unserer Galaxie finden ließe. Er wusste aber, dass er, wenn er mehr als ein paar Dutzend solcher Sterne finden wollte, eine komplett neue Beobachtungsstrategie würde anwenden müssen. Das LAMOST-Teleskop, das in der vorherigen Studie die Hauptrolle gespielt hatte, kann aufgrund seines Standorts auf der Erde und des Problems mit Beobachtungen während der Monsunmonate im Sommer die Kernregionen der Milchstraße überhaupt nicht beobachten. Und Unterriesen, als Stichprobe der Wahl in der früheren Studie, sind zu lichtschwach, als dass sie jenseits von Entfernungen von etwa 7000 Lichtjahren beobachtet werden könnten. Was diese angeht, liegen die Kernregionen unserer Galaxie völlig außer Reichweite möglicher Beobachtungen.
An dieser Stelle wird wichtig, dass es neben den seltenen Unterriesen, deren Alter sich genau bestimmen lässt, noch den allgemeineren Altersindikator der Metallizität gibt. Hinzu kam, dass im Juni 2022 der dritte Datensatz DR3 der Gaia-Mission der ESA veröffentlicht wurde. DR3 war die erste Datenveröffentlichung, die zusätzlich die ersten der mit Gaia aufgenommenen Spektren enthielt – Spektren von 220 Millionen astronomischen Objekten.
Spektren liefern Informationen über die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre eines Sterns, einschließlich seiner Metallizität. Doch obwohl die Spektren von Gaia von hoher Qualität sind und Spektren für eine konkurrenzlos hohe Anzahl von Sternen vorliegen, ist die spektrale Auflösung vergleichsweise gering. Um aus den Gaia-Daten verlässliche Werte für die Metallizität zu gewinnen, waren daher zusätzliche Analysen erforderlich, und genau das nahm Rix gemeinsam mit Kollegen in Angriff.
Das Team spezialisierte sich auf rote Riesensterne in den Gaia-Daten – typische Rote Riesen sind etwa hundertmal heller als Unterriesen und damit auch auf die Entfernung des galaktischen Zentrums und seiner Nachbarschaft gut zu beobachten. Sie haben den zusätzlichen Vorteil, dass die spektralen Merkmale, anhand derer man die Metallizität bestimmen kann, bei Sternen dieses Typs vergleichsweise auffällig sind. Das machte sie für die Art von Analyse, die die Astronomen planten, besonders geeignet.
Für die Analyse selbst griffen die Astronomen auf Methoden des maschinellen Lernens zurück. In diesem speziellen Fall wurden dem neuronalen Netz zu Trainingszwecken ausgewählte Gaia-Spektren als Eingabe gegeben – Gaia-Spektren nämlich, bei denen die richtige Antwort, die Metallizität, bereits aus einer anderen Durchmusterung bekannt war. Die interne Struktur des Netzwerks wurde so angepasst, dass es zumindest für diese Trainingsbeispiele die korrekten Metallizitäten reproduzieren konnte.
Eine allgemeine Herausforderung beim Einsatz des maschinellen Lernens in der Wissenschaft besteht darin, dass das neuronale Netz immer eine „Black Box“ ist – seine interne Struktur ist durch den Trainingsprozess entstanden und unterliegt nicht der direkten Kontrolle der Wissenschaftler. Aus diesem Grund trainierten die Forscher ihr neuronales Netz zunächst nur mit der Hälfte der APOGEE-Daten. In einem zweiten Schritt musste sich der Algorithmus dann an den restlichen APOGEE-Daten bewähren. Die Ergebnisse waren spektakulär: Auch für Sterne, an denen es nicht trainiert worden war, konnte das Netzwerk mit großer Genauigkeit Metallizitäten ermitteln.
Nachdem die Forscher auf diese Weise sowohl ihr neuronales Netz trainiert als auch überprüft hatten, dass es für zuvor unbekannte Spektren zum richtigen Ergebnis kam, durfte das neuronale Netz den gesamten Gaia-Datensatz für die vorab ausgewählten helle Riesensterne verarbeiten. Das verschaffte den Forschern genaue Werte für die Metallizitäten von zwei Millionen hellen Riesen in den inneren Regionen der Galaxis – der bislang größte Datensatz dieser Art.
Mit Hilfe dieser Daten war es dann direkt möglich, das arme Herz der Milchstraße zu identifizieren – eine Population von Sternen geringen Metallizität, hohen Alters und zentraler Lage. Auf einer Himmelskarte erscheinen diese Sterne als um das galaktische Zentrum konzentriert. Die von Gaia gelieferten Entfernungen ermöglichen zusätzlich eine 3D-Rekonstruktion, die zeigt, dass diese Sterne in der Tat vornehmlich in einer vergleichsweise kleinen inneren Region vorkommen, in Entfernungen von bis zu rund 15.000 Lichtjahren vom Zentrum.
Diese Sternpopulation schreibt die frühere Studie von Xiang und Rix zu den Jugendjahren der Milchstraße direkt fort: Die Sterne im armen alten Herz haben genau die richtige Metallizität um die gesuchten Vorgänger der metallärmsten jener Sterne zu sein, die später die dicke Scheibe der Milchstraße bildeten. Daraus wiederum folgt eine Altersabschätzung, denn die Entstehung der dicken Scheibe konnten Xiang und Rix ja mit Hilfe der Unterriesen zuverlässig datieren: Das arme, alte Herz der Milchstraße muss älter sein als rund 12,5 Milliarden Jahre.
Für eine sehr kleine, Untermenge an Objekten, für die nicht nur Gaia-, sondern auch die hochaufgelösten APOGEE-Spektren verfügbar sind, kann man einen Schritt weitergehen: Aus den APOGEE-Spektren lassen sich zusätzliche Eigenschaften ableiten, insbesondere die Häufigkeit von Elementen wie Sauerstoff, Silizium und Neon. Das sind Elemente, die entstehen, wenn zu Helium-4-Kernen wieder und wieder weitere Helium-4-Kerne hinzugefügt werden. Solche Elemente zeigen an, dass die betreffenden Sterne ihre Metalle aus einer Umgebung bezogen, wo schwerere Elemente innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit durch die Supernova-Explosionen massereicher Sterne erzeugt wurden.
Das wiederum spricht eher dafür, dass die Sterne im armen alten Herz direkt nach der Verschmelzung der ersten Proto-Galaxien zum ursprünglichen Kern der Milchstraße entstanden sind, als dass sie bereits in den Zwerggalaxien vorhanden waren, die den ursprünglichen Kern der Milchstraße bildeten oder in solchen, die später mit der Milchstraße verschmolzen. Das ist eine weitere eindrucksvolle Bestätigung dessen, was kosmologische Simulationen über Frühgeschichte unserer Heimatgalaxie aussagen.
MPIA / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
H.-W. Rix et al.: The Poor Old Heart of the Milky Way, Astroph. J. 941, 45 (2022); DOI: 10.3847/1538-4357/ac9e01 - Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg