Dauer des Tunneleffekts
Ein Elektron benötigt einige Attosekunden, um eine Energiebarriere zu überwinden.
Der Tunneleffekt spielt nicht nur eine Rolle in Quantenexperimenten, sondern auch beim radioaktiven Zerfall. Nach der klassischen Physik könnten die Teilchen den Energiewall nicht überwinden und aus dem Kern verschwinden. Nach den Gesetzen der Quantenphysik besteht aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass eines der Teilchen den Wall durchdringen kann. Befindet es sich außerhalb der Barriere, verlässt es den Kern, der damit radioaktiv zerfallen ist. An diesem zufällig auftretenden Kernprozess lässt sich nicht feststellen, ob das Teilchen Zeit benötigt oder nicht, um durch den vom Kern aufgebauten Wall zu tunneln. Doch nun hat die Heidelberger Gruppe einen Tunnelvorgang gezielt eingeleitet und dessen Dauer ermittelt.
Abb.: Tunneleffekt in einem zirkular polarisierten Laserfeld: Das Elektron befindet sich in einem Potentialtrichter, der vom elektrischen Feld des Atomkerns und dem des Laserimpulses erzeugt wird. Deswegen dreht sich der Trichter. Nach der Laseranregung durchtunnelt das Elektron die Barriere. Rechts: Simple-Man und Wigner-Modell sagen unterschiedliche Elektronenbahnen voraus. (Bild: PRL / MPIK)
In einem Atom erzeugt der Kern ein elektrisches Feld, das die ihn umgebenden Elektronen einschließt. Die Elektronen befinden sich gewissermaßen am Fuß eines sehr dicken Energiewalls, weswegen die Wahrscheinlichkeit, diesen zu durchtunneln, nahezu null ist. Deswegen sind Atome stabil. Wenn die Physiker allerdings einen kurzen Laserpuls auf die Teilchen einstrahlen, überlagert sich dessen periodisch schwingendes elektrisches Feld dem des Kerns. So verringert es für eine kurze Zeit die Breite des Walls, sodass die Wahrscheinlichkeit, den Wall zu durchtunneln, für ein gebundenes Elektron sehr groß wird. Tut es dies, so fliegt es vom Laserfeld geleitet fort und wird von einem Detektor nachgewiesen.
In einem solchen Experiment die Tunnelzeit zu bestimmen, erfordert jedoch einige Anstrengungen. Eine Gruppe von Theoretikern um Karen Hatsagortsyan in der Abteilung von Christoph Keitel hat diesen Vorgang zunächst theoretisch untersucht. Die einfachste Betrachtung nimmt an, dass das Tunneln keine Zeit benötigt, das Elektron also instantan am Tunnelausgang und mit der Geschwindigkeit Null erscheint. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass das Elektron eine bestimmte Zeit benötigt, um durch die Energiebarriere zu tunneln. Diese Theorie veröffentlichte 1955 der Physiker und Nobelpreisträger Eugene Wigner.
Zu berechnen, wie viel Zeit ein Elektron nach dem Modell von Eugene Wigner bei ihrem Experiment im Quantentunnel verbringen würde, war für die Physiker nicht einfach. „Die quantenmechanischen Berechnungen sind sehr aufwendig", sagt Christoph Keitel. „Wir mussten das Wigner-Modell stark weiterentwickeln und sehr spezifische Details unseres Experiments berücksichtigen." Wie das Ergebnis zeigt, braucht das Elektron eine gewisse Zeit, um die Barriere zu durchdringen. „Nach unseren Lösungen benötigt das Elektron im Fall des Wigner-Modells im Bereich der verwendeten Laserintensitäten 80 bis 180 Attosekunden, um die Barriere zu durchtunneln", so Enderalp Yakaboylu, der die Rechnungen ausführte.
Ebenso knifflig wie die Berechnung derart rasanter Vorgänge ist deren Messung. Die Forscher strahlten auf die Atome Laserpulse, die zirkular polarisiert waren. Wenn sich ein solches rotierendes Laserfeld dem elektrischen Feld des Atoms überlagert, dreht sich der gesamte Energietopf, in dem sich die Elektronen befinden. Der Laserpuls regt zudem eines der Elektronen an und startet damit die Zeitmessung. Das Teilchen durchtunnelt daraufhin die Energiebarriere und tritt an einer bestimmten Stelle aus. Wenn das Elektron hierfür Zeit benötigt, dann hat sich der Energietopf seit dem Start des Tunnelvorgangs ein wenig weitergedreht, und das Elektron tritt an einer anderen Stelle und in einem anderen Winkel aus, als wenn es ohne Zeitverlust tunneln würde. Diesen winzigen Winkelunterschied galt es zu messen.
„Eine der größten Herausforderungen bestand in der exakten Winkelmessung", sagt Thomas Pfeifer. Vor allem ist es extrem schwierig, den Winkel der Elektronbahnen absolut zu messen. Dieses Problem umgingen die Physiker mit einem entscheidenden Kniff: Sie untersuchten gleichzeitig ein Gemisch aus Argon- und Kryptonatomen, die sich in Barrierenhöhe und Tunnelstreckenlänge ein wenig unterscheiden. Folgen die Elektronen dem Wigner-Modell, absolvieren sie den Sprint durch den Quantentunnel mit verschiedenen Zeiten, was sich in leicht voneinander abweichenden Winkeln der Elektronflugbahnen äußert. Der Winkel zwischen diesen beiden Flugbahnen lässt erheblich genauer messen, als der absolute Winkel einer einzigen Flugbahn.
„Wir haben das Gasgemisch mit 3000 Pulsen pro Sekunde beschossen und konnten Schuss für Schuss analysieren, in welcher Atomsorte der Tunneleffekt ausgelöst wurde", so Nicolas Camus, der die Messungen durchführte. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Messdaten bestätigen das Wigner-Modell quantitativ und sind mit dem instantanen Tunnelvorgang nicht vereinbar. Damit beenden die Heidelberger Physiker eine jahrzehntelange Diskussion.
MPG / JOL