Der Kartograph der Milchstraße
Das Weltraumteleskop Gaia bereitet sich auf die Vermessung von einer Milliarde Sternen vor.
Am frühen Morgen des 19. Dezember, Ortszeit Französisch-Guayana, hob der Astrometriesatellit Gaia erfolgreich an Bord einer Sojus-Rakete ab. Der Weg in die Umlaufbahn verlief ohne Zwischenfälle und eineinhalb Stunden nach dem Start entfaltete das Weltraumteleskop seinen zehn Meter großen Schirm mit den aufgebrachten Solarzellen, deren knapp 13 Quadratmeter das Fahrzeug mit rund zwei Kilowatt an Energie versorgen.
So gerüstet machte sich Gaia auf die dreiwöchige Reise zu seinem Einsatzort: der Lagrange-Punkt L2, eineinhalb Millionen Kilometer auf der sonnenabgewandten Seite der Erde, um von dort aus ein Prozent der Sterne der Milchstraße zu vermessen – eine Milliarde Sonnen. L2 ist dafür ideal: Erde und Mond sind weit genug entfernt, um nicht zu stören und Gaia benötigt dort keinen Treibstoff, um die Bahn beizubehalten. Das Weltraumteleskop folgt damit als einzige dort aktive europäische Mission seinen „Cousins“ Herschel und Planck, die diesen Standort nach dem jeweiligen Missionsende wieder verlassen haben.
Mit seinen beiden Spiegelteleskopen von 1,45 x 0,5 Metern und einer Brennweite von 35 Metern kann Gaia rund eine Milliarde Sterne der Milchstraße vermessen. (Bild: ESA / ATG Medialab / ESO, S. Brunier)
Die Wissenschaftler hatten Gaia-Mission erstmals 1993 vorgeschlagen, kurz nach dem Ende der Vorgängermission Hipparcos. Dieses Konzept wurde zwar verworfen, was letztlich eine Vermessung auch leuchtschwächerer Sterne ermöglicht, die ESA behielt den Namen Gaia bei – das ursprünglich für Globales Astrometrisches Interferometer für die Astrophysik stand.
Das Weltraumteleskop verfügt über drei Hauptinstrumente – ein Astrometer, ein Photometer und ein Spektrometer zur Bestimmung von Radialgeschwindigkeiten –, auf die ein Spiegelteleskop mit zwei um 106,5 Grad gegeneinander verschobenen Gesichtsfeldern das Licht ferner Sterne lenkt. Gaia dreht sich alle sechs Stunden einmal um die 45 Grad von der Sonne weg zeigende Achse und kann so im Laufe von mindestens fünf Jahren alle Zielsterne mehrere Dutzend Mal beobachten. Aus den Ortsänderungen lassen sich die Eigenbewegungen ermitteln, Gaia liefert somit ein „sechsdimensionales“ Bild der Milchstraße, das alle Sterne bis zu einer scheinbaren Helligkeit 20. Magnitude umfasst – eine Million Mal lichtschwächer, als das bloße Auge sie sehen kann.
Mit der Gigapixel-Kamera kommt auf die Astronomen bei 40 Millionen Einzelbeobachtungen pro Tag eine enorme Datenmenge zu: etwa ein Petabyte, gerechnet auf fünf Jahre Dienstzeit. Bedenkt man den enormen Datenstrom, der auf die Forscher zukommt, haben sie bei der Auswertung alle Hände voll zu tun. Als „Citizen Scientist“ können Sie ihnen dabei zwar nicht direkt zur Hand gehen, aber ihnen zumindest virtuell über die Schulter schauen: mit der „Gaia Mission App“ von Astronomen der Universitat de Barcelona und des Institut d’Estudis Espacials de Catalunya, die es in englischer, spanischer und katalanischer Sprache für iOS gibt.
Das erste über Twitter veröffentlichte Bild zeigt den – mit 3. Magnitude viel zu hellen Stern Sadalmelik (α Aqr) bei noch nicht fokussierter Optik. (Bild: @ESAgaia)
Die Mission liefert nicht nur eine viel genauere Karte der Milchstraße, die Astronomen erweitern auch ihr Wissen über Helligkeit, Temperatur, Zusammensetzung und Bewegung der untersuchten Sterne. Als Nebenprodukt fallen zudem Informationen über weitere Klassen astronomischer Objekte ab. Denn in den Aufnahmen von Gaia dürften auch hunderte oder tausende Asteroiden und Kometen des Sonnensystems auftauchen, zehntausende braune Zwerge in diesem Teil der Milchstraße, zwanzigtausend Supernova-Explosionen in entfernten Galaxien und hunderttausende Quasare in den Weiten des Universums. Mit etwas Glück gehen den Forschern sogar Exoplaneten ins Netz – die Abschwächung der Sternleuchtkraft während eines Transits oder das „Wackeln“ der Sternflugbahn könnten ihre Anwesenheit verraten.
Am 8. Januar erfolgte der Einschuss in das Lissajous-Orbit, eine Ellipse mit rund 700 000 Kilometer Länge, auf der Gaia künftig den L2 zweimal pro Jahr umläuft und – ähnlich wie seinerzeit Planck – den gesamten Himmel scannt. Bis Mai soll die Kommissionierungsphase dauern, dann beginnt die Hauptarbeit für die mehr als 400 Wissenschaftler an den zahlreichen Instituten in Europa, darunter auch am Astronomische Recheninstitut und am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, an der Lohrmann-Sternwarte der TU Dresden und am Leibniz-Institut für Astrophysik, Potsdam. EADS Astrium konstruierte das Raumfahrzeug, Planung, Bau und Betrieb der Mission kosten rund eine Dreiviertelmilliarde Euro.
„Gaia steht für einen Traum der Astronomen aller Jahrhunderte, seit der griechische Astronom Hipparch die Positionen von rund tausend Sternen mit einfachen geometrischen Mitteln katalogisiert hat“, sagt Alvaro Giménez, ESA-Direktor für Wissenschaft und robotische Forschung. Projektwissenschaftler Timo Prusti ergänzt: „Der Schatz an Daten verschafft uns ein neues Bild von unserer galaktischen Nachbarschaft und deren Geschichte, mit der wir fundamentale Eigenschaften des Sonnensystems, der Milchstraße und unserem kosmischen Zuhause erforschen können.“
Oliver Dreissigacker
Weitere Infos
Film: Zeitrafferfilm von der Gaia-Integration in die Sojus und deren Start am 19. Dezember 2013 (Video: ESA)
Film: Gaias Reise vom Start bis zum L2 (Animation: ESA)
Film: Highlights vom Start (Video: ESA)